Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Normalverbraucher gilt, natürlich noch nicht unbedingt auf einen professionellen Vermögensverwalter zutreffen. Von Seiten verhaltensorientierter Wissenschaftler ist denn auch häufig folgendes Argument zu hören: Je erfahrener und professioneller ein Investor, desto rationaler wird er zu Werke gehen. Eine Reihe von Indizien weist freilich darauf hin, dass professionelle Anleger oft unter den gleichen Macken leiden wie der Rest der Menschheit. Auch sie rotten sich zusammen, auch sie überschätzen sich selbst; sie unterbewerten die Wirkung von Zufällen nicht minder; sie halten wie wir alle miteinander herausragende Leistungen für eine Folge von Tüchtigkeit und schlechte Leistungen einfach für Pech. Und angesichts der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Vermögensverwalter mit ihren erwirtschafteten Renditen unter Marktniveau liegt, fällt es wirklich schwer, sie als Vorbilder rationalen Verhaltens hinzustellen.
Wie nun soll man das jedoch verstehen, dass der durchschnittliche Anleger keineswegs mit dem rationalen Wesen identisch ist, das die Wirtschaftslehrbücher propagieren? Verhaltensorientierten Ökonomen zufolge ist es so zu erklären: Die Bewertungen des Marktes enthalten gravierende Mankos; man muss damit rechnen, dass sie auf die eine oder andere Weise dauernd danebenliegen. Diese Interpretation ist allerdings nicht beweisfähig. Außerdem: Auch wenn der individuelle Anleger irrational ist, kann das aus den Entscheidungen aller bestehende kollektive Endurteil ja durchaus rational und gescheit sein.
Betrachten wir an dieser Stelle doch einmal das Phänomen der Selbstüberschätzung. Sie bietet ohne Zweifel eine Erklärung für den hyperaktiven Aktienhandel und bringt den Handelnden mit Sicherheit persönliche Nachteile. Aber manövriert sie den Markt (oder den Preis einer bestimmten Aktie) systematisch in eine bestimmte Richtung? Das anzunehmen besteht kein Anlass, denn die Tatsache, dass die Anleger übermäßiges Vertrauen in die eigene Tüchtigkeit haben, sagt ja noch nichts darüber aus, in welcher Hinsicht sie sich selbst zu viel zutrauen. Ich kann mir des Wertanstiegs der soeben von mir erworbenen Aktie zu sicher sein oder kann mir zu sicher sein, dass die Aktie abstürzt, die ich soeben im Optionsgeschäft veräußert habe. Auf den Markt wird mein subjektives Gefühl der Sicherheit jedoch so oder so keine systematische Auswirkung zeitigen, weil ein übermäßiges Selbstvertrauen eben nicht mit einer gleichgearteten Einstellung zu Aktien korreliert. Wenn dem so wäre – wenn, beispielsweise, besonders selbstgewisse Menschen Hochtechnologie-Aktien verabscheuten -, würde es den Markt natürlich beeinflussen. Für eine derartige Korrelation gibt es jedoch keine Beweise. Gleiches gilt für unsere Überbewertung der neuesten Finanznachrichten. Auch wenn Anleger jüngsten Meldungen über ein Unternehmen eine zu große Bedeutung beimessen, heißt das keineswegs, dass die Meldungen von allen Investoren im gleichen Sinne überbewertet werden; denn eine Information wird ja von verschiedenen Anlegern unterschiedlich interpretiert.
Echten Schaden fügen dem Markt also nur jene Verhaltenseigenheiten zu, die systematisch Meinungsverzerrungen erzeugen – indem sie etwa die Bewertung einer Aktie oder die Einstellung zum Investieren überhaupt betreffen. Wie wir anhand der Arbeiten von Vernon Smith gesehen haben, können Märkte hervorragend Aufgaben lösen, ohne dass Anleger rational und Märkte vollkommen sein müssen. Oder um es anders zu formulieren: Die Irrationalität Einzelner vermag, gebündelt, eine kollektive Rationalität ergeben. Das wird durch ein Experiment der Ökonomen Karim Jamal und Shyam Sunder bestätigt. Einer der von verhaltensorientierten Wirtschaftswissenschaftlern ermittelten Aspekte ist die menschliche Neigung, sich bei Entscheidungen auf »Schlüsselfaktoren« zu verlassen, obwohl diese im Grunde nur willkürliche Zahlen sind – zum Beispiel der momentane Preis einer Aktie. Statt sich gründlich über ein Unternehmen zu informieren und aus seinen Zukunftschancen auf den angemessenen Wert der Aktie zu schließen, tendieren Anleger beispielsweise dazu, sich über Gebühr vom momentanen Kurswert der Aktie beeinflussen zu lassen. Sunder und Jamal stellten sich die Frage, wie sich so etwas auf den Markt auswirkt, und versahen hierzu eine Gruppe ihrer Roboter-Investoren mit einer simplen Strategie des Anpassens an Schlüsselwerte. Mit anderen Worten: Die Investoren gehen von
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