Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
weiterverkaufen könnte, sondern vielmehr von dem Nutzen, den man selbst davon hat. Und mit wenigen Ausnahmen verlieren materielle Produkte mit der Zeit ja auch an Wert. Man erhält beim Wiederverkauf weniger, als man gezahlt hat.
Auf Finanzmärkten dagegen werden Dinge mit der Zeit oft wertvoller. Die Preise steigen. (Gleiches gilt für den Kunst- und den Antiquitätenmarkt.) Und deswegen ist es von hoher Bedeutung, ob ich meine Aktie oder meine Immobilie wieder verkaufen kann. Und nun das entscheidende Moment: Eben das macht die Einschätzung des Marktes, was meine Aktie wert ist, so wichtig. Was habe ich beim Kauf einer Aktie zu beachten? Rein theoretisch sollte ich mich darüber in Kenntnis setzen, was das fragliche Unternehmen in Zukunft verdienen wird. Wenn das Unternehmen über die kommenden 20 Jahre 60 Dollar (im Sinne eines abgezinsten Cashflow) pro Aktie verdienen wird, sollte ich bereit sein, 60 für das Papier zu zahlen. In der Praxis werde ich mich aber wahrscheinlich nicht einfach nur um die künftigen Gewinne des Unternehmens, sondern auch darum sorgen, was das Unternehmen nach Ansicht anderer an Rendite machen wird, weil das nämlich darüber entscheidet, ob ich in der Lage sein werde, die Aktie zu mehr als meinem Kaufpreis wieder zu veräußern.
Zur Veranschaulichung des Unterschieds zum täglichen Wirtschaftsverhalten sei folgendes Beispiel angeführt: Man betritt den örtlichen Lebensmittelladen, um einen Apfel zu kaufen, und hat wahrscheinlich eine gewisse Vorstellung von einem fairen Preis für dieses Obst. Wenn der Apfel nun aber 90 Cent kostet und man 75 Cent für angemessen hält, wird man deswegen nicht wutentbrannt aus dem Geschäft stürmen. Man weiß in solchen Situationen aber, wann man übers Ohr gehauen wird und wann man ein gutes Geschäft macht, weil man (wenn auch nicht bewusst) ein Gespür dafür hat, wie viel einem der Apfel wert ist – was man also davon hat.
Die Vorstellung von einem solch fairen Preis entsteht ohne ein Nachdenken darüber, was andere Menschen diesbezüglich über Äpfel denken. Gewiss, man weiß, was der Lebensmittelhändler für den richtigen Preis hält – es ist ja der Preis, den er verlangt. Und man hat ja auch früher schon Äpfel gekauft, hat also Erfahrungen, auf die man seine Idee von einem akzeptablen Preis stützt. Im Kern basiert unsere Entscheidung auf einer ganz einfachen Überlegung: Wie sehr mag ich Äpfel? Und wie gut ist dieser Apfel, den zu kaufen ich jetzt erwäge?
Man entscheidet folglich relativ selbstständig, ob man den Apfel kauft oder nicht kauft, so wie es zu jedem Zeitpunkt unzählige Apfelliebhaber, jeder für sich, ebenfalls tun. Auf der anderen Seite kalkulieren die Produzenten, wie viel sie der Anbau und der Transport ihrer Äpfel kostet. Im Preis von Äpfeln reflektieren sich folglich Millionen selbstständiger, voneinander unabhängiger Entscheidungen.
Im Gegensatz dazu reflektiert der Preis einer Aktie oft eine Reihe abhängiger Entscheidungen; denn was Menschen als Wert der Aktie ausmachen, hängt ja zumindest partiell von den Meinungen aller anderen über den Wert der Aktie ab. Der Ökonom John Maynard Keynes stellte diesen Prozess als eine Art Schönheitswettbewerb dar: »Ein professionelles Investieren lässt sich mit jenen Zeitungswettbewerben vergleichen, deren Teilnehmer aus hundert Fotografien die sechs hübschesten Gesichter zu wählen haben; den Preis erhält derjenige, dessen Wahl dem durchschnittlichen Geschmack aller Teilnehmer am nächsten kommt; aus diesem Grunde hat jeder Teilnehmer nicht etwa die Gesichter auszuwählen, die ihm persönlich am besten gefallen, sondern jene, von denen er meint, dass sie wahrscheinlich am ehesten das Augenmerk anderer Teilnehmer erregen, die diese Aufgabe alle miteinander unter dem gleichen Gesichtspunkt betrachten.«
Auf den letzten Satz kommt es an. Keynes hat erkannt: Was den Aktienmarkt besonders merkwürdig erscheinen lässt, ist die häufige Beschäftigung von Anlegern nicht nur mit der Einschätzung des durchschnittlichen Anlegers, sondern auch mit der Einschätzung dessen, was der durchschnittliche Anleger für die Meinung des durchschnittlichen Anlegers hält.
Aus diesem Spiel gibt es, hat man sich erst darauf eingelassen, kaum ein Entrinnen. Doch trotz Keynes: Am Aktienmarkt wird dieses Spiel nicht von allen betrieben. Manche handeln unabhängig und selbstständig, indem sie einfach das hübscheste Mädchen herausgreifen – das heißt die Aktie des besten
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