Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Wirtschaftswissenschaftler Colin F. Camerer befragte sie, warum sie Aktien zu einem Preis gekauft hätten, von dem sie eigentlich hätten wissen müssen, dass er verrückt war. »Darauf kam die Antwort: ›Natürlich habe ich gewusst, dass die Preise zu hoch waren. Ich habe aber beobachtet, dass andere Personen zu hohen Preisen kauften und verkauften. Da habe ich mir gedacht, dass ich getrost kaufen könnte, zwischendurch ein oder zwei Dividenden einsacken würde und die Aktien danach zum gleichen Preis wieder irgendeinem anderen Idioten verkaufen könnte.‹«
Das Caltech-Experiment ist aufschlussreich wegen seiner Radikalität. Die Studenten waren im Besitz aller Informationen, die sie zu einer richtigen Entscheidung benötigten – das heißt, um für eine Aktie keinen überhöhten Preis zu zahlen. Ihnen war bekannt, wann das Experiment beendet sein würde – dass ihnen also zum Abstoßen ihrer Aktien nur ein begrenzter Zeitraum zur Verfügung stand. Und, von ihren Zurufen für den Kauf und Verkauf von Aktien einmal abgesehen, kommunizierten sie auch nicht miteinander – sie vermochten einander auch nicht aufzuheizen. Und dennoch bildete sich eine Seifenblase. Das veranschaulicht, wie gefährlich es ist, in Abhängigkeit zu entscheiden.
Nun muss freilich eingeräumt werden, dass Seifenblasen an realen Börsenmärkten komplizierter und auch interessanter sind. Zunächst einmal: Dort wird einem gar nicht bewusst, dass man sich mitten in so einer Blase befindet. Camerers Studenten gestanden offen ein, dass sie nach einem noch größeren Dummkopf Ausschau hielten; in einem realen Börsenschwindel glauben – nicht alle, aber jedenfalls manche – Anleger dem Hype. Die Leute, die Cisco-Aktien zu einem Zeitpunkt kauften, als sie die teuersten Aktien der Welt waren, taten dies zweifellos, weil sie überzeugt waren, dass der Aktienwert einfach immer weiter steigen würde – und letzten Endes, dass der Konzern möglicherweise doch wirklich 350 Milliarden Dollar wert war.
Das Teuflische an einem Börsenschwindel besteht darin, dass er, je länger er dauert, desto weniger wie eine Seifenblase wirkt – zum Teil deshalb, weil niemand weiß, wann er endet (so wie man rückblickend auch nicht wirklich wissen kann, wann er eigentlich anfing). Es hat jede Menge Gurus gegeben, die 1998 den katastrophalen Niedergang der Nasdaq-Aktien prophezeiten. Wer zu dem Zeitpunkt ausgestiegen wäre, hätte jedoch einen 40-prozentigen Gewinn verpasst. Wäre man vor 1998 ausgestiegen, hätte man sogar einen 85-prozentigen Gewinn versäumt. Wie viele Jahre muss es auf dem Markt kontinuierlich aufwärts gehen, bevor der wahre Zustand klar zu werden beginnt?
Man macht es sich zu leicht, wenn man Börsenschwindel als Anfälle kollektiver Hysterie abtut. Die Sache ist wesentlich komplizierter. Wie wir im Kapitel über Imitationen und die Informationskaskaden gesehen haben, ist ein gewisses Huckepack-Reiten auf der Weisheit anderer unvermeidbar und oft durchaus von positiver Wirkung. Wenn Gruppen im Allgemeinen relativ intelligent sind (was bekanntlich der Fall ist), besteht eine keineswegs geringe Chance, dass ein Aktienpreis tatsächlich angemessen hoch ist. Zum Problem wird die Sache erst, wenn jedes Mitglied sich der Weisheit der Gruppe anzuschließen beginnt – dann fügt nämlich niemand mehr der Weisheit der Gruppe etwas hinzu. Zu Keynes ist anzumerken: Beim Schönheitswettbewerb besteht nur dann Aussicht, dass das hübscheste Mädchen gewählt wird – und zu diesem Zweck ist er schließlich da -, wenn einige Teilnehmer wirklich darüber nachdenken, welches Mädchen von allen das schönste ist.
So wie wir nicht verstehen, warum es zu Börsenkrächen kommt, haben wir bisher auch keine rechte Ahnung, wie Seifenblasen entstehen. Wir wissen nur: Sie können aus dem Nichts kommen. Bowling war während der fünfziger Jahre in den USA eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. Unternehmen der Biotechnologie haben die Pharmaindustrie revolutioniert. Und das Internet war eine wegweisende, umwälzende Technologie. Wo liegt also das Problem? Es liegt darin, dass eine Seifenblase des Börsenmarkts zunächst nichts weiter ist als ein folgerichtiger Versuch von Anlegern, sich an starke Wirtschaftstrends anzuhängen, sich aber bald zu etwas ganz anderem entwickelt. Die Versuchung, auf der Basis des Verhaltens anderer mit Aktien zu handeln, ist nahezu unwiderstehlich. Und wenn Investoren einander nachäffen, verfällt die Weisheit der Gruppe
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