Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
brauchte zweieinhalb Stunden, um sie abzulaufen. Zwei Tage lang rannten die Ameisen so im Kreis, bis die meisten von ihnen tot umfielen.
Das von Beebe beobachtete Phänomen ist unter Biologen als »Kreismühle« bekannt. Es tritt dann auf, wenn Treiberameisen von ihrem Staat getrennt werden. Dann halten sie sich an eine einfache Regel: Jede Ameise läuft der vorangehenden nach. Auf diese Weise kommt es zu einer solch verheerenden Kreisbewegung, die nur dann wieder aufgelöst werden könnte, wenn ein paar Ameisen ausbrechen und die anderen sich ihnen anschließen.
Wie Steven Johnson in seinem sehr erhellenden Buch Emergence zeigt, funktioniert eine Ameisenkolonie normalerweise recht gut. Sie kennt keinen Herrscher. Keine Ameise erteilt anderen Befehle. Für sich allein weiß jede einzelne Ameise zwar so gut wie nichts, und doch findet die Kolonie Nahrung, werden alle notwendigen Arbeiten verrichtet, pflanzt sie sich fort. Die einfachen Mittel, dank derer die Ameisen so erfolgreich sind, sind aber auch für den Tod dieser Tiere verantwortlich, die in jene »Kreismühle« geraten. Denn jede Bewegung einer Ameise hängt vom Tun der anderen Ameisen ab. Eine Ameise ist nicht in der Lage – sonst könnte sie den Todesmarsch beenden -, selbstständig zu handeln.
Ich habe bislang in diesem Buch vorausgesetzt, dass Menschen nicht wie Ameisen sind. Anders gesagt: Ich habe angenommen, dass der einzelne Mensch in seinen Entscheidungen unabhängig ist. Unabhängigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Isolation, wohl aber bedeutet sie eine relative Freiheit von der Beeinflussung durch andere. Da wir unabhängig sind, haben wir in einem gewissen Maße eigene Meinungen. Wir werden nicht im Kreis in den Tod marschieren, bloß weil die Ameisen vor uns sich so verhalten.
Und das ist wichtig, weil – im Unterschied zur Ameisenkolonie – eine Menschengruppe mit wesentlich höherer Wahrscheinlichkeit eine gute Problemlösung finden wird, wenn ihre Mitglieder voneinander unabhängig sind. Natürlich, Unabhängigkeit ist immer ein relativer Begriff. Die Geschichte von Francis Galton und dem Ochsengewicht illustriert es auf schöne Weise. Die Marktbesucher schätzten das Gewicht des Ochsen jeder für sich (auch wenn man vermuten darf, dass mancher einem anderen über die Schulter guckte), indem sich jeder auf »vertrauliche Informationen« stützte, um einen Terminus der Wirtschaftswissenschaftler zu gebrauchen. (Der Begriff umfasst nicht nur konkrete Daten, sondern auch deren Interpretation, Auswertung, oder gar Intuitionen.) Und wenn all die voneinander unabhängigen Schätzungen zusammengenommen werden, ist, wie wir bei Galton gesehen haben, die vereinheitlichte Schätzung nahezu perfekt.
Für die Entscheidungsfindung ist eine Unabhängigkeit des Urteilens aus zwei Gründen von Bedeutung. Zum einen verhindert sie eine Wechselbeziehung individueller Fehler. Fehler einzelner Personen werden die kollektive Entscheidung einer Gruppe nicht untauglich machen, solange sie nicht in ein und derselben Richtung verlaufen. Es ist aber ein Leichtes, menschlichen Urteilen eine gemeinsame Fehlrichtung zu geben: Man muss sie nur in ihren Informationen voneinander abhängig machen. Zum anderen verfügen voneinander unabhängige Menschen wahrscheinlich nicht nur über die gewohnten Daten, sondern auch über neue Informationen. Die gescheitesten Gruppen bestehen demzufolge aus Personen mit unterschiedlichen Perspektiven: aus Personen, die imstande sind, voneinander unabhängig zu bleiben. Unabhängigkeit ist nun freilich nicht gleichbedeutend mit Rationalität oder mangelnder Voreingenommenheit. Die Personen können durchaus voreingenommen und irrational sein – solange sie jedoch unabhängig sind, wird die Gruppe, der sie angehören, dadurch nicht minder intelligent.
Die Annahme, dass der Mensch unabhängig sei, ist weit verbreitet. Es ist eine Vorstellung, die unmittelbar anspricht, denn sie nimmt die Autonomie des Individuums als gegeben an. Sie liegt dem Liberalismus der westlichen Welt zugrunde. In der Form des so genannten »methodologischen Individualismus« stellt sie ein Fundament der meisten ökonomischen Lehrbücher dar. Wirtschaftswissenschaftler setzen es für gewöhnlich als selbstverständlich voraus, dass der Mensch im eigenen Interesse handelt. Und sie gehen davon aus, dass jeder Mensch von selbst darauf kommt, was ihm und seinen Interessen dient.
Dennoch: Es ist gar nicht leicht, eine Unabhängigkeit des Denkens zu erreichen. Wir
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