Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
gegnerische Mannschaft an ihrer eigenen 32-Yard-Linie übernimmt. Romer konnte erklären, wie viele Punkte das eine Mannschaft kosten kann. Kurzum: Jedes Resultat könnte auf gleicher Basis mit jedem anderen Resultat verglichen werden.
Nach NFL-Maßstäben waren Romers Schlussfolgerungen alarmierend. Er argumentierte nämlich, dass die Mannschaften viel öfter als geplant auf Field Goals verzichten und für ein First Down in die Offensive gehen müssten. Ja, Romer empfahl sogar, dass eine Mannschaft angesichts eines Fourth Down, für das noch drei oder weniger Yards benötigt wurden, allemal losstürmen müsse. Und zwischen dem Mittelfeld und der gegnerischen 30-Yard-Linie – also genau dort, wo die »Rams« sich befanden, als Martz seine Entscheidung traf – müssten Teams laut Romer noch viel offensiver vorgehen. Innerhalb der gegnerischen 5-Yard-Linie sollte zudem stets ein Touchdown angestrebt werden.
Folgerungen wie die von Romer wirken auf den ersten Blick überraschend und danach auf einmal unglaublich plausibel. Man betrachte einmal ein Fourth Down auf der gegnerischen 2-Yard-Linie. Man kann ein Field Goal anstreben – damit wären 3 Punkte so gut wie sicher – oder ein Touchdown, was nur bei etwa 43 Prozent aller Versuche gelingt. Nun machen 43 Prozent (von dabei möglichen 7 Punkten) allerdings rund drei Punkte aus. Der Wert der zwei Spielweisen ist folglich identisch. Man darf aber nicht nur dieses bedenken: Denn selbst wenn der Versuch eines Touchdown schiefgeht, wird der Gegner auf seiner eigenen 2-Yard-Linie festgenagelt. Es ist darum clever, sich für ein Touchdown zu entscheiden.
Oder nehmen wir die Entscheidung für ein Fourth-and-Three im Mittelfeld. Eine solche Taktik geht die Hälfte der Zeit erfolgreich auf, die andere Hälfte jedoch daneben. Das gleicht sich aus. (Was immer dabei herauskommt: Beide Mannschaften werden den Ball die gleiche Zeit auf dem Feld haben.) Für die 50 Prozent der erfolgreichen Versuche gewinnt man durchschnittlich sechs Yards – man steht also, auch wenn man erfolglos bleibt, besser da als der Gegner. Es lohnt folglich wiederum, offensiv zu spielen.
Nun gibt es sicherlich Aspekte, die Romer nicht einzubeziehen vermochte, insbesondere die Auswirkungen von Dynamik und Rasanz aufs Spiel. Und Romers Zahlen sind Durchschnittswerte, die sich auf die gesamte League beziehen; die einzelnen Teams würden also wohl einiges nachjustieren müssen, um ihre speziellen Erfolgschancen für ein Fourth Down richtig einzuschätzen. Dennoch scheint Romers Erkenntnis unanfechtbar: Trainer agieren übertrieben vorsichtig. Was Martz angeht, so erwiesen sich seine zwei Entscheidungen in dem erwähnten Super-Bowl-Finale für seine Mannschaft als denkbar schlecht. Martz weigerte sich, auf der 32-Yard-Linie der »Patriots« ein First Down zu erstreben, obwohl die »Rams« bloß drei Yards davon entfernt waren. Nach den Berechnungen Romers wäre hier der Einsatz für ein First Down sogar dann berechtigt gewesen, wenn die »Rams« neun Yards benötigt hätten. (Von dieser Position im Feld sind die Chancen, ein Field Goal zu verfehlen, hoch, der eventuelle Positionsverlust jedoch gering.) Und das gilt bereits für eine durchschnittliche Mannschaft. In Anbetracht einer Offensivstärke wie jener der »Rams« wäre ein Versuch wesentlich aussichtsreicher gewesen. Selbst wenn eine taktische Entscheidung (oder auch zwei) sich nicht definitiv auf den Spielausgang auswirkt – die Niederlage der »Rams« kann da nicht mehr verwundern.
Martz ist jedoch kein Einzelfall. Romer nahm sich sämtliche Fourth-Down-Versuche des ersten Spielviertels während der genannten drei Spielzeiten vor und ermittelte 1100 Spiele, in denen die Mannschaften besser kompromisslos angegriffen hätten – stattdessen zog man 994 Mal vor, den Ball zu kicken.
Das ist verblüffend. Schließlich sollten Football-Trainer vermeintlich alles daransetzen, ein Spiel zu gewinnen. Sie sind Profis und infolgedessen daran interessiert, sich durch taktische Innovationen einen Spielvorteil zu verschaffen. Dennoch wählten sie keine Strategie, die ihre Siegeschancen hätte erhöhen können. Es ist natürlich möglich, dass Romer irrt. Football ist ein sehr komplexes, dynamisches Spiel, bei dem sich die jeweiligen Anteile von Tüchtigkeit, Strategie, Emotionen und schierem Glück nur schwer aus dem Ergebnis herausfiltern lassen. Auch mag es durchaus sein, dass Romers Computerprogramm einige wichtige Aspekte übersah – sehr
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