Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
sind zwar autonome, aber eben auch gesellige Wesen. Wir möchten voneinander lernen, und Lernen ist ein sozialer Prozess. Die Nachbarschaft, in der wir leben, die Schulen, die wir besuchen, und die Unternehmen, in denen wir tätig sind, formen unser Denken und unsere Gefühle. Wie Herbert J. Simon es formulierte: »Ein Mann arbeitet nicht monateoder jahrelang in einer bestimmten Position in einem Unternehmen, wo er gewissen Kommunikationsströmungen ausgesetzt und von anderen abgeschirmt ist, ohne dass es tief greifende Auswirkungen hat auf das, was er weiß, glaubt, beachtet, hofft, wünscht, für wichtig hält, befürchtet und plant.«
Doch obwohl Ökonomen die soziale Natur der menschlichen Existenz erkennen – wie sollten sie auch anders? -, neigen sie dazu, die Autonomie des Individuums zu betonen und den Einfluss der Mitmenschen auf unsere Vorlieben und Urteile herunterzuspielen. Sozialwissenschaftler dagegen definieren den Menschen als in spezielle gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet; dass es da zu Beeinflussungen kommt, betrachten sie als unvermeidlich. Soziologen empfinden das im Allgemeinen auch nicht als Problem. In ihrer Sicht ist menschliches Leben eben so strukturiert. Und für das Alltagsleben stellt das vielleicht auch kein Problem dar. Ich möchte an dieser Stelle aber darauf hinweisen, dass, je stärkeren Einfluss Mitglieder aufeinander ausüben und je mehr sie in persönlichem Kontakt miteinander stehen, weise Entscheidungen der Gruppe umso weniger wahrscheinlich werden. Denn je größer der Einfluss, den wir aufeinander ausüben, desto höher die Aussicht, dass wir das Gleiche glauben und die gleichen Fehler begehen. Das heißt: Es ist durchaus möglich, dass wir auf diese Weise individuell zwar klüger, kollektiv jedoch dümmer werden. Wir haben uns also im Zusammenhang mit kollektiver Weisheit die Frage zu stellen: Können Menschen überhaupt kollektiv intelligente Entscheidungen treffen, wenn sie in stetiger, wenn auch eventuell unregelmäßiger Interaktion miteinander stehen?
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Im Jahr 1968 beschlossen die Sozialpsychologen Stanley Milgram, Leonard Bickman und Lawrence Berkowitz, ein bisschen Unruhe zu stiften. Zunächst postierten sie eine einzelne Person an einer Straßenecke, wo sie 60 Sekunden lang in den leeren Himmel schauen sollte. Von den Passanten blieb nur ein winziger Teil stehen, um zu sehen, was der Kerl da am Himmel suchte; die allermeisten gingen einfach weiter. Beim nächsten Mal postierten die Soziologen an dieser Ecke fünf himmelwärts starrende Männer. Diesmal blieben viermal so viele Leute stehen, um ebenfalls zum leeren Himmel emporzublicken. Als die Psychologen dann 15 Männer an der Straßenecke aufstellten, blieben 45 Prozent der Passanten stehen. Bei einer weiteren Verstärkung der Himmelgucker an der Straßenecke verrenkten sich schließlich über 80 Prozent der Passanten die Hälse.
Auf den ersten Blick scheint diese Studie ein weiteres Mal die menschliche Bereitschaft zu konformem Verhalten zu bestätigen. In Wahrheit demonstriert sie jedoch etwas anderes: dass es nämlich so etwas wie einen »sozialen Beweis« gibt – nämlich unsere Neigung anzunehmen, dass, wenn viele Menschen etwas tun oder glauben, es dafür einen guten Grund geben muss. Das ist nun keineswegs dasselbe wie Konformität. Die Leute haben ja nicht aus Gruppenzwang oder Furcht vor Tadel in den Himmel geschaut. Sie blickten vielmehr hoch, weil sie dachten – eigentlich vernünftigerweise -, dass so viele andere Menschen dies wohl nicht tun würden, wenn da nichts zu sehen wäre. Eben darum ist mit zunehmender Größe auch die Wirkungsmacht der Gruppe an der Straßenecke gewachsen. Jeder weiterhin neu Hinzukommende »beweist«, dass sich da etwas Wichtiges abspielt. Und die herrschende Meinung geht nun mal dahin, dass man in einer Situation der Ungewissheit am besten einfach mitmacht. Dies ist eigentlich gar keine so unsinnige Annahme. Denn falls die Gruppe gewöhnlich am besten Bescheid weiß – was ja, wie bereits argumentiert, oft genug zutrifft -, ist es vernünftig, sich dem Gruppenverhalten anzuschließen. Nur hat die Sache einen Haken: Wenn diese Strategie von zu vielen eingeschlagen wird, ist sie eben nicht mehr vernünftig und die Gruppe nicht länger gescheit.
Lassen Sie uns die Geschichte von Mike Martz, dem Cheftrainer der »Saint Louis Rams«, als Beispiel nehmen. 1 Vor Beginn des Football-Endspiels um die 36. Super Bowl galten die »Rams« als 14-Punkte-Favorit
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