Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
ausgelöst und verfolgt werden können, ergreifen Kaskadengruppen in rund 8o Prozent der Fälle die bessere Alternative – womit sie die Trefferchancen Einzelner übertrumpfen. Doch in einer realen Informationskaskade treffen Menschen ihre Entscheidungen nicht zeitgleich, sondern in Folge. Erklären lässt sich das leicht – manche Individuen sind eben vorsichtiger, andere experimentierfreudiger, wieder andere finanziell unabhängiger. Vereinfacht gesagt sind die aus Kaskaden resultierenden Probleme in der schlichten Tatsache begründet, dass manche sich eben früher entscheiden als andere. Soll die Entscheidungsfindung eines Unternehmens oder einer Volkswirtschaft optimiert werden, so kann man aber kaum etwas Besseres tun, als zu bewerkstelligen, dass die Entscheidungen nahezu gleichzeitig und nicht eine nach der andern getroffen werden.
Dafür bietet eines der zuvor bereits erwähnten Klassenzimmer-Experimente einen interessanten Beleg. Es wurde von den Ökonomen Angela Hung und Charles Plott im Rückgriff auf eine uralte Übung entwickelt, in der Schüler farbige Kugeln von einer Vase abzeichnen. Hier gab es nun zwei Vasen. Die Vase A enthielt doppelt so viele weiße Kugeln wie schwarze; bei der Vase B lag das Verhältnis umgekehrt. Zu Beginn wählten die Experimentatoren eine der beiden Vasen aus, von der dann jeweils ein Freiwilliger nach dem anderen eine Kugel abzeichnete. Die von allen Teilnehmern am Experiment zu beantwortende Frage lautete: Welche der beiden Vasen hatte Modell gestanden? Als Preis waren zwei Dollar ausgesetzt.
Den Teilnehmern standen zur Beantwortung dieser Frage zwei Informationsquellen zur Verfügung. Da war zunächst einmal die Kugel, die jeder für sich vorher abgezeichnet hatte. Hatte jemand eine weiße Kugel abgezeichnet, stand es zwei zu eins, dass sie von Vase A, hatte er eine schwarze gezeichnet, dass sie von Vase B stammte. Das war die vertrauliche, die persönliche Information jedes Teilnehmers, da keinem erlaubt war preiszugeben, von welcher Vase er seine Kugel abgezeichnet hatte. Offen äußern durfte in dem Kreis jeder nur seine Vermutung, von welcher Vase die andern wohl abgemalt hatten: Das war die zweite Quelle von Information. Sie erzeugte einen potenziellen Konflikt. Falls drei Personen vor einem auf Vase B tippten, man selber jedoch eine weiße Kugel abgemalt hatte – sollte man trotzdem auf Vase A tippen, obwohl die bisherigen Teilnehmer der Gruppe anders dachten?
In der Mehrheit tippten die Studenten in dieser Situation auf Vase B, was auch vernünftig war. Und an diesem Punkt setzte in 78 Prozent der Experimente eine Informationskaskade ein, mit der die Experimentatoren gerechnet hatten. Dann änderten Hung und Plott die Regeln: Die Studenten zeichneten weiterhin jeder eine Kugel aus einer der beiden Vasen und gaben anschließend wieder ihr Votum ab. Statt eines Preises für die richtige Einzelantwort wurde nun jedoch eine Belohnung für die Gruppe ausgesetzt, deren kollektive Antwort – in Form der Stimmenmehrheit – die richtige war. Die Studenten sahen sich einer anderen Art von Aufgabe gegenüber. Und nun versuchte nicht mehr der Einzelne als Bester abzuschneiden: Alle waren daran interessiert, dass ihre Gruppe sich als die klügste erwies.
Dazu war eines notwendig: Jeder Student musste seiner persönlichen Information mehr und der Meinung der übrigen weniger Gewicht einräumen. (Kollektive Entscheidungen sind, man erinnere sich, nur weise, wenn sie viele verschiedenartige Informationen enthalten.) Die jeweils persönliche Information aber war unvollständig. Das heißt: Ein Student, der mehr auf seine eigene Meinung baute, würde persönlich eher falsch raten. Die Gruppe dagegen würde auf diese Weise eher die richtige Antwort finden. Dank der Ermunterung der Einzelnen, falsch zu raten, wurden alle miteinander als Gruppe gescheiter. Das so erbrachte kollektive Gruppenurteil stellte sich erwartungsgemäß als signifikant genauer heraus als das Urteil von Gruppen, in denen es zu einer Informationskaskade gekommen war.
Indem Hung und Plott in der zweiten Experimentierstufe das Urteilen für den Einzelnen weniger bedeutsam machten, beseitigten sie das Moment der Aufeinanderfolge aus dem Entscheidungsprozess (oder minimierten es jedenfalls). Für eine ganze Wirtschaft ist dergleichen natürlich so leicht nicht zu bewerkstelligen. Uns Kunden wäre es nicht recht, dass Unternehmen abwarten und ein neues Produkt erst auf den Markt bringen, nachdem das breite
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