Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
allerorten die Geschäftswelt, Wissenschaftler und Technologen beschäftigt. So raten etwa Managementtheorien zur kundenorientierten Neugestaltung von Unternehmen und empfehlen, Kontroller und Manager zu ersetzen durch selbstverantwortliche Teams, denen die Lösung der meisten Probleme übertragen werden sollte. Dem Utopischen zugeneigte Theoretiker halten die herkömmliche Unternehmensverfassung für gänzlich überholt. Physiker und Biologen widmen sich zunehmend sich selbst organisierenden, dezentralisierten Systemen wie Ameisenkolonien oder Bienenstöcken, die sich auch ohne fixen Mittelpunkt als stabil und anpassungsfähig erweisen. Und Sozialwissenschaftler haben neuerlich die Bedeutung sozialer Netzwerke erkannt, dank derer Menschen sich verbinden und koordinieren können, ohne dass es dazu einer Einzelperson bedürfte. Am bedeutungsvollsten ist in diesem Zusammenhang wohl das Entstehen des Internets – in mancher Hinsicht das sichtbarste dezentralisierte System der Welt – und daraus abgeleiteter Technologien wie P2P-Sharing (exemplifiziert durch Napster), die eine klare Demonstration der ökonomischen und organisatorischen Möglichkeiten einer Dezentralisierung bieten.
Zu dieser Vorstellung von einer Weisheit der Menge gehört ebenfalls, Dezentralisierung als eine vorgegebene, natürliche Größe zu akzeptieren; sie beinhaltet ja auch, dass eine Gruppe von unabhängigen, aus Eigeninteresse handelnden und, statt mit Anweisungen von oben, dezentral am gleichen Problem arbeitenden Menschen kollektiv wahrscheinlich mit einer besseren Lösung aufwartet, als sie sonst erreichbar wäre. Nun waren aber die amerikanischen Geheimdienstagenten und -sachverständigen, von Eigeninteressen gelenkt und unabhängig, dezentral mit dem gleichen Problem beschäftigt. Was ist da also schiefgegangen? Warum haben diese Agenten keine bessere Prognose geliefert? Lag ihr Versagen wirklich an ihrer Dezentralisierung?
Bevor wir darauf antworten, müssen wir uns zunächst einer anderen, einfacheren Frage zuwenden. Was verstehen wir eigentlich unter »Dezentralisierung«? Es ist ein recht weit greifender Begriff, mit dem in den letzten Jahren großzügiger denn je verfahren wurde. Vogelschwärme, die freie Marktwirtschaft, Peer-to-peer-Computernetzwerke – all das ist als Beispiel von Dezentralisierung angeführt worden, ebenso aber das amerikanische staatliche Schulsystem und die moderne Kapital- und Aktiengesellschaft. Solche Systeme sind zwar sehr verschiedenartig, haben jedoch eines gemeinsam: In ihnen allen liegt die Macht nicht völlig bei einem Zentralorgan; viele der wichtigen Entscheidungen werden von Personen auf der Basis lokalen und spezifischen Wissens anstelle eines allwissenden oder visionären Planers getroffen.
In Bezug auf Entscheidungsfindung und Problemlösung beinhaltet die Dezentralisierung mehrere ausschlaggebende Aspekte. Sie fördert eine Spezialisierung, von der sie ihrerseits wiederum genährt wird – die Spezialisierung der Arbeit, von Interessen und dergleichen mehr. Wie wir seit Adam Smith wissen, macht Spezialisierung Menschen tendenziell produktiver und effizienter. Und sie steigert das Spektrum sowie die Vielfalt von Informationen und Meinungen (wenngleich sie die Interessen des Einzelnen verengt).
Entscheidend ist Dezentralisierung auch für das von Friedrich Hayek so genannte stillschweigende Wissen – ein Wissen, das nicht ohne weiteres in Worten zusammengefasst und anderen mitgeteilt werden kann, weil es einer bestimmten Region, Stellung oder Erfahrung eigentümlich ist. Dennoch ist es von ungemein hoher Bedeutung. (Wege zu finden, um das schweigende Wissen Einzelner ins Spiel zu bringen, stellt übrigens für jede Gruppe eine essentielle Aufgabe dar.) Damit verbunden ist die Annahme, die den Kern der Zentralisierung berührt, nämlich: Je näher jemand einem Problem steht, desto wahrscheinlicher kann er oder sie dafür eine gute Lösung finden. Anwendung fand diese Erkenntnis schon im alten Athen, wo die Gestaltung der öffentlichen Feste den demoi überlassen wurde, statt vom Rat entschieden zu werden; und die meisten Kleindelikte wurden vor örtlichen Gerichten verhandelt. Sie ist übrigens auch im alttestamentlichen Buch Exodus am Werk: Da erhält Moses von seinem Schwiegervater den guten Rat, nur »große Dinge« selbst zu entscheiden und alles andere den örtlichen Machthabern zu überlassen.
Die besondere Stärke der Dezentralisierung beruht darauf, dass sie zu Unabhängigkeit
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