Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
nicht, ist es am einfachsten – sogar einfacher, als sich auf den Wetterbericht im Fernsehen oder im Radio zu verlassen -, einmal kurz aus dem Fenster nach unten zu schauen, ob die Passanten draußen auf dem Bürgersteig Regenschirme dabeihaben. So halte ich es persönlich, und es kommt selten vor, dass meine Taktik nicht aufgeht. Oder ein anderes, ähnliches Beispiel: Ich wohne in Brooklyn und parke mein Auto an der Straße, muss es wegen der Straßenreinigung aber zweimal wöchentlich vor elf Uhr morgens umparken, und bis 10.45 Uhr sind an diesen Tagen alle Autos fort. Gelegentlich kommt es jedoch vor, dass noch sämtliche Autos da stehen, wenn ich um 10.40 Uhr aus der Wohnung gehe, was mir verrät, dass die Straßenreinigung an diesem besonderen Tag ausfällt, und so lasse ich meinen Wagen eben stehen. Nun ist es zwar denkbar, dass alle Autobesitzer in der Nachbarschaft eine genaue Liste führen über die Tage, an denen die Straßenreinigung ausbleibt; ich nehme aber an, dass die meisten es so halten wie ich und sozusagen der Weisheit der Menge folgen.
In gewissem Sinne ist Nachahmung eine Art rationale Reaktion auf die Grenzen unseres Erkennens. Es kann nicht jeder alles wissen. Dank Nachahmung kann der Mensch sich spezialisieren und der Nutzen aus dem Aufwand, den er in das Aufspüren von Informationen investiert, breitenwirksam werden. Nachahmen bedarf auch kaum einer Lenkung von oben. Die relevante Information fließt selbst in Abwesenheit einer zentralen Stelle durch das gesamte System. Und die Bereitwilligkeit der Menschen zum Nachahmen ist ja auch nicht bedingungslos. Wenn ich aufgrund schlechter Informationen mehrfach Strafzettel kriege, werde ich mich bald darum kümmern, genau zu erfahren, wann ich mein Auto wegzufahren habe. Und wenngleich ich bezweifle, dass Milgram und seine Kollegen die Leute, die anlässlich des Experiments stehen blieben und in den Himmel schauten, nachher weiterhin beobachtet haben, ist zu vermuten, dass die Leute das nächste Mal, wenn sie jemanden mit himmelwärts gerichtetem Blick sahen, wieder innegehalten haben, um sich selbst davon zu überzeugen, was es am Himmel zu betrachten gab. Auf die Dauer muss nachahmen sich als sinnvoll erweisen, damit die Menschen es weiterhin tun.
Das Nachahmen ist ein so zentrales Element unseres Lebens, dass der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Simon einmal mutmaßte, der Mensch sei genetisch als Imitationsmaschine programmiert. Auch unter anderen Lebewesen scheint Imitation der Schlüssel zur Weitergabe wertvoller Verhaltensweisen. Das berühmteste Beispiel sind die Makaken, eine Affenart auf der japanischen Insel Koshima. Anfangs der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts verfiel eine einjährige Makaken-Dame namens Imo auf die Idee, ihre Süßkartoffeln vor der Verspeisung im Wasser eines Baches zu waschen. Bald war kaum noch ein Makake zu finden, der die Kartoffeln vor dem Essen nicht wusch. Ein paar Jahre später führte Imo eine weitere Neuerung ein. Die auf der Insel an einem Forschungsprojekt beteiligten Wissenschaftler gaben den Affen (zusätzlich zu den Kartoffeln) gelegentlich Weizen zu fressen. Der Weizen wurde ihnen jedoch stets am Meeresstrand geboten, wo er sich rasch mit Sand vermischte. Imo fand jedoch Folgendes heraus: Wenn man eine Hand voll dieses Gemischs aus Sand und Weizen ins Meer warf, ging der Sand unter, der Weizen aber schwamm obenauf. Binnen weniger Jahre warfen nahezu alle Makaken die Sand-und-Weizen-Mischung ins Meer, um den Weizen auszusortieren.
Die Geschichten von Imo sind interessant, weil sie der These dieses Buches anscheinend zuwiderlaufen: Hier gab es einen besonderen Affen, der die richtige Lösung eines Problems entdeckte und damit die »Gesellschaft« der Makaken grundlegend veränderte. Wie sollte da die Menge weise gewesen sein?
Die Weisheit lag eben darin, es Imo nachzumachen. Wie ich bereits im vorausgegangenen Kapitel erwähnt habe, sind Gruppen fähiger, zwischen möglichen Antworten auf eine Frage zu entscheiden als eine neue Lösungsalternative zu entdecken. Das Entdecken mag sehr wohl ein individuelles Unterfangen darstellen (obwohl es, wie wir noch sehen werden, auch eine unvermeidliche soziale Dimension hat); unter Entdeckungen selektieren ist dagegen ein kollektiver Vorgang. Sinnvoll angewandt, ist Imitation ein mächtiges Instrument zur raschen Verbreitung guter Ideen – sei es in der Kultur, in der Wirtschaft, im Sport oder in der Kunst des Weizenessens von Affen. In seiner
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