Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
über, ausschließlich dieses Saatgut zu verwenden. Von dessen probeweisem Einsatz durch den ersten Farmer bis zu dem Zeitpunkt, da die Hälfte der Farmer Iowas es nutzten, vergingen ganze neun Jahre – nicht die Spur eines überstürzten, kopflosen Entscheidungsprozesses.
In diesem Zusammenhang ist eine weitere wissenschaftliche Studie aufschlussreich. Sie befasste sich mit der Frage, wie Bauern in Indien während der Grünen Revolution der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts entschieden: Sollten sie neues, ertragreicheres Saatgut ausbringen oder nicht? In dieser Studie weist Kaivan Munshi nach, dass Reis- und Weizenbauern da sehr unterschiedlich vorgingen. Die Bodenverhältnisse in den Weizenanbaugebieten waren relativ gleichartig, sodass die Erträge von Hof zu Hof nicht sonderlich voneinander abwichen. Ein Landwirt, der Weizen anbaute und beobachtete, wie die Ernte auf den Feldern seines Nachbarn dank des neuen Saatguts erheblich besser ausfiel, konnte also damit rechnen, dass auch er dann bessere Erträge erzielen würde. Deshalb verfolgten Weizenanbauer das Tun ihrer Nachbarn mit größter Aufmerksamkeit; sie orientierten sich an deren Ernteerfolgen. Dagegen gab es in den Regionen, in denen Reis angepflanzt wurde, erhebliche Bodenunterschiede und folglich von Hof zu Hof dementsprechend unterschiedliche Ernten. Insofern besaß die Ernte eines Nachbarn mit der neuen Saat (ob sie nun besser oder schlechter ausfiel) hier kaum Aussagekraft, weshalb die Reisbauern in ihren Entscheidungen weniger durch ihre Nachbarn beeinflusst waren. Sie zogen es stattdessen vor, mit dem neuen Saatgut zunächst einmal auf eigenem Grund und Boden zu experimentieren, bevor sie sich zu einer breiteren Verwendung entschlossen. Im Rahmen dieses Buches ist freilich Folgendes bedeutsam: Auch die indischen Getreideanbauer brachten die neuen Getreidesorten erst auf breiter Fläche aus, nachdem sie sich von deren Ertragreichtum aus eigener Anschauung gewiss geworden waren.
Für Landwirte ist die Wahl der richtigen Mais- oder Weizensorte die allerwichtigste Entscheidung. Von daher kann es eigentlich nicht überraschen, dass sich von deren Qualität zuerst einmal jeder selbst überzeugt, statt blind dem Beispiel anderer zu folgen. Was wiederum bedeutet: Es gibt Produkte oder Probleme, die für Kaskaden besonders anfällig sind. Beispielsweise ist die Mode in hohem Maße durch Informationskaskaden geprägt – hier sprechen so genannte Gags an. Denn in modischen Trends ist das, was man persönlich mag und was allen anderen gefällt, in augenfälliger Weise miteinander verwoben. Ich selbst kleide mich in einem ganz bestimmten Stil. Es wäre freilich undenkbar, dass mein bevorzugter Kleidungsstil nichts mit dem Eindruck zu tun hätte, den ich auf andere Menschen machen möchte – woraus gefolgert werden muss, dass mein Geschmack mitnichten absolut individuell oder völlig autonom ist. Ähnliches ließe sich, wenn auch weniger stringent, für den kulturellen Bereich (zum Beispiel für Fernsehshows) anführen – ein Grund, warum wir uns eine Show ansehen, besteht ja darin, dass wir im Freundeskreis darüber diskutieren wollen -, und auch unser Besuch von Restaurants ist ja nicht zuletzt dadurch bestimmt, dass wir ungern die einzigen Gäste im Lokal sein möchten. Keiner kauft einen »iPod« nur deswegen, weil sich auch andere einen »iPod« zugelegt haben – so wie man vielleicht ins Kino geht, weil andere sich ebenfalls einen ganz bestimmten Film angesehen haben. Dennoch beharren manche Technologieunternehmen darauf, Informationskaskaden (der positiven Wirkungsart, wie sie natürlich behaupten) seien für den eigenen Erfolg maßgeblich, weil die Erstnutzer angeblich effektiv Mundpropaganda für ihr neues Produkt machen. Ich darf hier auf einen möglicherweise banal anmutenden, doch entscheidenden Punkt aufmerksam machen: Je gewichtiger eine Entscheidung, desto unwahrscheinlicher die durchschlagende Wirkung einer Informationskaskade. In unserem Zusammenhang muss man das wohl begrüßen. Es hat nämlich zu bedeuten: Je gravierender eine Entscheidung, desto wahrscheinlicher ist es, dass das kollektive Urteil einer Gruppe sich als richtig erweist.
5
Das an Informationskaskaden für uns Interessante liegt darin, dass sie – wie ein Wahlsystem oder ein Markt – eine Form des Bündelns von Informationen darstellen. Nur funktioniert die Bündelung hier nicht gut. Bei Experimenten im Seminarraum oder Klassenzimmer, wo Kaskaden leicht
Weitere Kostenlose Bücher