Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Höchstform kann man es als Chance zur Beschleunigung des Evolutionsprozesses verstehen – die Gemeinschaft kann rasch fit werden, ohne dass es dazu wie gewöhnlich etlicher Generationen genetischen Aussiebens bedürfte. Die Wissenschaftler Robert Boyd und Peter J. Richerson, Pioniere im Erforschen der Weitergabe von Gesellschaftsnormen, haben versucht zu begreifen, wie Gruppen kollektiv nutzbringende Schlussfolgerungen erzielen. Hierzu führten sie eine Serie von Computersimulationen durch und studierten »Agenten« beim Evaluieren jenes Problems, welche Verhaltensweise von zweien für das Leben in ihrer Umwelt am geeignetsten ist. In der Simulation kann jeder Agent für sich allein eine Verhaltensweise ausprobieren und sehen, was dann passiert; er kann aber auch einen anderen beobachten, der bereits seine Wahl getroffen hat. Boyd und Richerson sind zu dem Schluss gekommen, dass unter solchen Gegebenheiten alle profitierten, wenn ein ansehnlicher Teil der Bevölkerung für das Imitieren optiert. Das trifft allerdings nur so lange zu, wie Leute bereit sind, das Nachmachen einzustellen und eigenständig zu lernen, wenn sich das als hinreichend vorteilhaft erweist. Mit anderen Worten: Wenn Leute einfach bloß andere nachmachen – ohne die Konsequenzen zu beachten -, leidet das Gemeinwohl der Gruppe. Intelligentes Imitieren kann der Gruppe nutzen, indem es für eine raschere Verbreitung guter Ideen sorgt. Sklavisches Nachmachen aber wirkt sich nur schädlich aus.
Es fällt natürlich gar nicht leicht, zwischen diesen beiden Weisen des Nachahmens zu unterscheiden, weil nur wenige Menschen sich dazu bequemen, sich einzugestehen, dass sie mal blind konform gegangen sind oder sich herdenmäßig verhalten haben. Kluges Nachmachen gründet sich auf zwei Voraussetzungen: erstens auf einem breiten Spektrum von Optionen und Informationen zu Beginn sowie zweitens auf dem Mut von zumindest ein paar Menschen innerhalb der Gruppe, dem eigenen Urteil zu vertrauen, selbst wenn das eigene Urteil unvernünftig scheint.
Gibt es solche Menschen überhaupt? Nun, es existieren von ihnen mehr, als man meinen würde. Zum einen ist das so, weil Menschen generell eher ein zu großes Selbstvertrauen besitzen; sie schätzen ihre Fähigkeiten, ihren Wissensstand und ihren Mut zu eigenen Entschlüssen viel zu hoch ein. Das trifft insbesondere auf schwierige Situationen zu. Für sie persönlich ist das gar nicht gut, denn es bedeutet ja: Wahrscheinlich treffen sie eine eher schlechte als eine gute Entscheidung. Auf die Gesellschaft als Ganzes wirkt es sich freilich eher positiv aus, weil allzu selbstsichere Menschen sich von einer negativen Informationskaskade weniger aufsaugen lassen und sie, unter den rechten Umständen, sogar aufzubrechen vermögen. Man darf nicht vergessen: Eine Kaskade wird nur durch Menschen in Gang gehalten, die öffentliche Informationen für wertvoller befinden als ihr vertrauliches Eigenwissen. Eben das tun sehr selbstbewusste Personen nicht. Sie neigen dazu, öffentliche Informationen zu ignorieren und ihrem Bauchgefühl zu vertrauen – womit sie zwischen die Signale funken, die von den anderen akzeptiert werden. Dank ihrer »Störungen« wirken öffentliche Informationen weniger fest gesichert. Und dies ermutigt andere wiederum dazu, dem eigenen Urteil zu trauen, statt einfach nur der Menge zu folgen.
Zugleich schließen sich aber selbst risikoscheue Menschen nicht einfach so der Mehrheit an. Das wird beispielsweise durch eine Untersuchung der Soziologen Bryce Ryan und Neal Gross aus dem Jahr 1943 über die Akzeptanz einer ertragreicheren neuen Saatmaiskreuzung durch Farmer in Iowa eindrucksvoll belegt – sie hat sich als die wohl einflussreichste Untersuchung der Geschichte über Innovationen erwiesen. Dabei stellten Ryan und Gross fest, dass die meisten Farmer die neue Samenart nicht unabhängig erprobten, sobald sie von ihr hörten – ungeachtet dessen, dass ihnen recht solide Informationen zur Verfügung standen, denen zufolge sie mit einer Erntesteigerung von bis zu 20 Prozent rechnen konnten. Sie warteten ab, bis andere Bauern damit Erfolg hatten, und folgten dann deren Beispiel. Es war hier also eine Kaskade im Spiel. Doch selbst angesichts der positiven Resultate der anderen Farmer nutzten sie das neue Samengut nicht für ihr gesamtes Areal; stattdessen sonderten sie kleine Parzellen ab, auf denen sie das Korn vorab selbst erprobten. Erst nachdem sie sich persönlich überzeugt hatten, gingen sie dazu
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