Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
gibt ein Land, das – als einziges in der ganzen Welt – eine solche Stoßzeiten-Maut zur Perfektion entwickelt hat: Singapur. Dies dürfte Amerikaner wie Westeuropäer in Anbetracht des sozialen und kulturellen Kontrasts eigentlich nicht verwundern. Dort muss die Regierung sich weder um eine wütende Autofahrerlobby noch um eine vergrätzte Wählerschaft auch nur einen Deut scheren. So wurde das Mautsystem dort denn auch bereits 1975 eingeführt. Es ist dem Londoner Plan im Ansatz recht ähnlich: Wer zur Stoßzeit in den zentralen Geschäftsbereich des Stadtstaates fahren wollte, musste dafür Maut entrichten. Die wichtigsten seitherigen Änderungen sind technologischer Art. Einst sorgten Verkehrshostessen für die Einhaltung des Systems; sie notierten die Nummernschilder der Wagen von Fahrern, die sich nicht an die Vorschrift hielten. Heute befindet sich am Armaturenbrett aller Wagen in Singapur eine pfiffige elektronische Zahlkarte; sobald man in die mautpflichtige Zone gelangt, sieht man, wie die Gebühr von der Karte abgebucht wird. Die Praxis hat zwei Vorteile: Sie macht Mogeln unmöglich, und sie führt Fahrern die Kosten ihrer Entscheidung, mit dem Auto in die Stadt zu fahren, prompt vor Augen. Außerdem hat Singapur inzwischen das Gebührensystem verfeinert. Früher wurde dort für das Fahren zu Stoßzeiten eine Einheitsgebühr verlangt. Mittlerweile ist dort für die Hauptstoßzeit eine besonders hohe Gebühr fällig. Von 7.30 bis 8 Uhr ist das Fahren halb so teuer wie von 8 bis 9 Uhr; für die abendliche Stoßzeit gilt wieder eine andere Gebühr. In Singapur wird sogar die Möglichkeit angeboten, nur an Wochenenden mit dem Auto zu fahren. (Dafür werden beim PKW-KAUF Rabatte sowie Kfz-Steuernachlässe eingeräumt.) Kein Wunder, dass der Straßenverkehr in Singapur wesentlich besser organisiert ist als in New York oder London, obwohl in dem Stadtstaat mehr zugelassene Autos pro Straßenkilometer unterwegs sind als in jedem Land der westlichen Welt. (Zugegeben: Singapur ist natürlich ein sehr kleines Land.)
Das Staukostensystem Singapurs ist ein Erfolg. Interessanterweise – vor allem in Anbetracht des autoritären Regimes – bleibt es dort jedoch dem einzelnen Bürger überlassen zu entscheiden, ob er mit seinem Wagen in die Stadt fährt oder nicht, obwohl es doch am einfachsten gewesen wäre, bestimmte Gruppen der Bevölkerung für gewisse Wochentage vom Autoverkehr auszuschließen. Genau das ist in Mexiko geschehen – wenngleich es in Mexiko vorrangig darum ging, die extrem hohe Umweltverschmutzung zu reduzieren. Bewohnern von Mexico City, deren Autonummernschild mit der Ziffer 5 oder 6 endet, ist das Autofahren montags untersagt (bei den Endziffern 7 oder 8 ist es an Dienstagen, für die Endziffern 3 oder 4 mittwochs verboten und so fort), mit dem Ergebnis, dass nun jeder samstags oder sonntags unterwegs ist. Die Verkehrsdichte ist durch diese Maßnahme ebenfalls nicht geringer geworden, weil Autofahrern für die ihnen erlaubten Wochentage kein Anreiz zu einer Suche nach alternativen Möglichkeiten geboten wird. Zudem haben sich viele Mexikaner einen Zweitwagen zugelegt, einzig und allein zu dem Zweck, dass sie an den Ausnahmetagen doch fahren können. Das System Singapurs macht dagegen Fahrern bewusst, wie viel sie das Autofahren tatsächlich kostet, und es verlässt sich einfach darauf, dass alle individuellen Fahrentscheidungen kollektiv zu einem vernünftigen Endergebnis führen.
Zu berechnen, was Autofahrer eigentlich zahlen müssten , ist freilich eine enorme Aufgabe, zu deren Lösung Wirtschaftswissenschaftler bereits eine Menge Tinte vergeblich verspritzt haben. Ein offenkundiges Problem beruht darauf, dass es Wohlhabenderen leichter fällt – je reicher sie sind, desto mehr -, zu einem Zeitgewinn ebenso wie aus Gründen der Bequemlichkeit Geld einzusetzen. (Sie zahlen, um per Auto in die Londoner Innenstadt zu fahren, weil das für sie schlichtweg lohnenswerter ist, als die U-Bahn zu benutzen.) Andererseits können die weniger Wohlhabenden die Maut umgehen, indem sie auf die Benutzung des eigenen Autos verzichten – was ihnen allerdings keinerlei Vorteile verschafft. Eine faire Gebührenregelung für Stoßzeiten dürfte also im Grunde nicht nur mit einer Maut verbunden sein. Sie müsste die daraus resultierenden Einnahmen vielmehr auch gerecht verteilen. Singapur hat auf das Problem erfolgreich mit der Einrichtung eines hypermodernen Schnell-Transitsystems reagiert. Für London sieht
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