Die Weisheit des Feuers
geschrieben hatte. Eragon beugte sich zu ihr hinüber und las:
Umhertreibend auf den Meereswellen der Zeit, wandert der einsame Gott von Küste zu Küste, um die Gesetze des Sternenhimmels zu bewahren.
»Was bedeutet das?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie und verwischte die Zeile mit einer Armbewegung.
»Wie kommt es eigentlich«, fragte er bedächtig, während er seine Gedanken ordnete, »dass nirgends die Namen der abtrünnigen Drachen genannt werden? Wir sagen ›Morzans Drache‹ oder ›Kialandís Drache‹, aber wir nennen sie nie beim Namen. Sie waren doch sicher genauso wichtig wie ihre Reiter! Ich kann mich nicht mal daran erinnern, die Namen in den Schriftrollen gelesen zu haben, die mir Oromis gegeben hat... dabei
müssen
sie doch drinstehen... ja, da bin ich ganz sicher, aber aus irgendeinem Grund habe ich sie nicht behalten. Ist das nicht seltsam?« Arya wollte antworten, aber noch bevor sie den Mund öffnen konnte, sagte Eragon: »Jetzt bin ich zum ersten Mal froh, dass Saphira nicht hier ist. Ich schäme mich, dass mir das nicht schon früher aufgefallen ist. Selbst du, Arya, und Oromis und alle anderen Elfen, die ich kennengelernt habe, nennen sie nicht beim Namen, als wären sie gefühllose Tiere, die diese Ehre nicht verdienen. Tut ihr das absichtlich? Weil sie eure Feinde sind?«
»War davon in keiner deiner Lektionen die Rede?«, fragte Arya. Sie schien aufrichtig erstaunt.
»Ich glaube«, sagte er, »Glaedr hat Saphira gegenüber einmal etwas davon erwähnt, aber da bin ich nicht ganz sicher. Ich war gerade mitten im Tanz von Schlange und Kranich, deshalb habe ich nicht darauf geachtet, was Saphira tat.« Er lachte etwas verlegen und hatte das Gefühl, ihr das erklären zu müssen. »Manchmal war es ganz schön verwirrend. Oromis redete mit mir, während ich auf Saphiras Gedanken horchte, die sich mit Glaedr unterhielt. Und was es noch schlimmer machte: Glaedr benutzt nur selten Sprache im eigentlichen Sinn, wenn er mit Saphira kommuniziert. Er hat die Angewohnheit, eher Bilder, Gerüche und Empfindungen zu verwenden als Worte. Und statt Namen übermittelt er ihr Eindrücke von den Leuten und Dingen, die er meint.«
»Kannst du dich an gar nichts erinnern, was er sagte? Ob Worte oder nicht?«
Eragon zögerte. »Nur daran, dass es um einen Namen ging, der kein Name war oder so ähnlich. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.«
»Was er gemeint hat«, sagte Arya, »war
Du Namar Aurboda,
die Verbannung der Namen.«
»Die Verbannung der Namen?«
Sie griff nach dem vertrockneten Grashalm und schrieb wieder etwas in den Sand. »Das war eins der bedeutendsten Ereignisse, die während der Kämpfe zwischen den Drachenreitern und den Abtrünnigen stattgefunden haben. Als die Drachen erkannten, dass dreizehn von ihnen sie verraten hatten - dass diese dreizehn Galbatorix halfen, den Rest ihrer Gattung auszuradieren, und es ziemlich unwahrscheinlich war, dass sie irgendjemand in ihrer Raserei stoppen konnte -, wurden sie wütend. So wütend, dass sie ihre Kräfte bündelten und einen ihrer unerklärlichen Zauber vollbrachten. Gemeinsam beraubten sie die Verräter ihrer Namen.«
Eragon erstarrte in Ehrfurcht. »Wie war das möglich?«
»Hab ich nicht gerade gesagt, es war unerklärlich? Wir wissen nur, dass niemand mehr die Namen der dreizehn aussprechen konnte, nachdem die Drachen ihren Zauber gewirkt hatten. Diejenigen, die sich noch an die Namen erinnerten, vergaßen sie bald. Und obwohl man sie in Schriftrollen und Briefen, in denen sie aufgezeichnet sind, lesen und sogar abschreiben kann, wenn man immer nur ein Schriftzeichen auf einmal betrachtet, kommen sie einem doch vor wie Kauderwelsch. Die Drachen haben lediglich Jarnunvösk, Galbatorix’ ersten Drachen, verschont, weil es ja nicht seine Schuld war, dass er von Urgals getötet wurde, und Shruikan, weil er Galbatorix nicht freiwillig dient, sondern von Galbatorix und Morzan dazu gezwungen wurde.«
Was für ein schreckliches Schicksal, seinen Namen zu verlieren,
dachte Eragon. Er fröstelte.
Wenn ich eine Sache gelernt habe, seit ich ein Drachenreiter geworden bin, dann, dass man nie und nimmer einen Drachen zum Feind haben will.
»Und was ist mit ihren wahren Namen? Haben sie die auch ausgelöscht?«
Arya nickte. »Wahre Namen, Geburtsnamen, Spitznamen, Familiennamen, Titel, alles. Sie waren danach kaum noch mehr als gewöhnliche Tiere und konnten nicht mal sagen: ›Ich mag dies‹ oder ›Ich verabscheue jenes‹ oder
Weitere Kostenlose Bücher