Die Weisheit des Feuers
gewünscht, seine Mutter zu sehen, aber jetzt, wo es endlich so weit war, befiel ihn die Angst, er könnte enttäuscht sein.
Mit einiger Überwindung drehte er den Schiefer um und sah vor sich - so klar und deutlich, als blicke er aus einem Fenster - einen Garten mit roten und weißen Rosen im fahlen Licht der Morgendämmerung. Ein Kiesweg führte zwischen den Beeten hindurch, und mitten auf dem Weg kniete eine Frau, die eine weiße Rosenblüte zwischen den Händen hielt und mit geschlossenen Augen und einem leisen Lächeln daran roch.
Sie war wunderschön,
dachte Eragon. Ihr Gesichtsausdruck war sanft und zärtlich, auch wenn sie schwere Lederkleidung mit schwarzen Arm- und Beinschienen trug und Schwert und Dolch von ihrer Hüfte hingen. In ihren Gesichtszügen konnte Eragon eine leichte Ähnlichkeit zu sich selbst und ihrem Bruder Garrow feststellen.
Der Anblick faszinierte Eragon. Er legte die Hand auf die Oberfläche der Schiefertafel und wünschte sich, er könne in das Bild hineingreifen und sie berühren.
Mutter.
»Brom hat mir dieses Fairith zur Aufbewahrung gegeben, bevor er nach Carvahall aufgebrochen ist«, sagte Oromis, »und jetzt gebe ich es dir.«
Ohne aufzuschauen, fragte Eragon: »Würdet Ihr es auch für mich aufbewahren? Es könnte zerbrechen, wenn wir unterwegs sind und kämpfen müssen.«
Die Pause, die darauf folgte, machte Eragon stutzig. Nur widerwillig löste er den Blick vom Bildnis seiner Mutter und stellte fest, dass Oromis wehmütig und geistesabwesend wirkte. »Nein, Eragon, das kann ich nicht. Du musst dir dafür jemand anderen suchen.«
Warum?,
wollte Eragon fragen, aber die Trauer in Oromis’ Augen hielt ihn davon ab.
Der Elf ergriff erneut das Wort: »Deine Zeit hier ist begrenzt und wir müssen noch über viele Dinge reden. Soll ich raten, was du als Nächstes wissen willst, oder sagst du es mir?«
Nur widerwillig legte Eragon das Fairith mit dem Bild nach unten auf den Tisch. »Die beiden Male, die wir gegen Murtagh und Dorn gekämpft haben, war Murtagh mächtiger, als es irgendein Mensch sein sollte. Auf den Brennenden Steppen hat er Saphira und mich besiegt, weil wir nicht wussten, wie stark er war. Wenn er es sich nicht noch anders überlegt hätte, wären wir jetzt Gefangene in Urû’baen. Ihr habt einmal erwähnt, Ihr wüsstet, wie Galbatorix so mächtig geworden ist. Wollt Ihr es uns verraten, Meister? Wir müssen es wissen; zu unserer eigenen Sicherheit.«
»Es euch zu erzählen, steht mir nicht zu«, entgegnete Oromis.
»Wem dann?«, wollte Eragon wissen. »Ihr könnt doch nicht...« Hinter Oromis öffnete Glaedr eines seiner goldgelben Augen, das so groß war wie ein Rundschild, und sagte:
Mir... Der Ursprung von Galbatorix’ Macht liegt in den Herzen der Drachen. Von uns stiehlt er seine Kraft. Ohne unsere Hilfe wäre er längst den Elfen oder den Varden unterlegen.
Eragon runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Warum solltet ihr Galbatorix helfen? Und wie könntet ihr es überhaupt? In Alagaësia gibt es nur noch vier Drachen und ein Ei - oder?«
Viele der Drachen, deren Körper Galbatorix und die Abtrünnigen abgeschlachtet haben, sind heute noch am Leben.
»Noch am Leben?« Eragon sah Oromis Hilfe suchend an, aber der Elf schwieg mit unergründlicher Miene. Noch mehr aber irritierte Eragon, dass Saphira seine Verwirrung nicht zu teilen schien.
Der goldene Drache drehte den Kopf, der nach wie vor auf seinen Pfoten lag, um Eragon direkt ins Gesicht blicken zu können, und seine Schuppen kratzten aneinander.
Anders als bei den meisten Lebewesen,
erklärte er,
sitzt das Bewusstsein eines Drachen nicht nur in seinem Kopf. In unserer Brust gibt es ein hartes edelsteinartiges Gebilde, das in seiner Zusammensetzung unseren Schuppen gleicht. Es wird Eldunarí genannt, was »Seelenhort« bedeutet. Wenn ein Drache aus dem Ei schlüpft, ist sein Eldunarí klar und glanzlos. Normalerweise bleibt er das ganze Leben eines Drachen hindurch so und löst sich mit dem Körper auf, wenn er stirbt. Aber wenn wir wollen, können wir unser Bewusstsein in den Eldunarí strömen lassen. Dann nimmt er dieselbe Farbe an wie unsere Schuppen und beginnt, zu glühen wie ein Stück Kohle. Wenn ein Drache sich dazu entscheidet, bleibt sein Eldunarí über den Verfall seines Körpers hinaus bestehen und sein Wesen kann auf unbestimmte Zeit weiterleben. Außerdem kann ein Drache seinen Seelenhort, auch das Herz der Herzen genannt, noch zu Lebzeiten ausspeien. Sein
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