Die Weisheit des Feuers
Glaedrs Gedanken und die Farben seiner Emotionen wahrnehmen.
Der Eldunarí selbst sah aus wie ein riesiges goldenes Juwel. Die Oberfläche war warm und mit Hunderten scharfkantigen Facetten bedeckt, die in ihrer Größe variierten und teilweise sonderbar schräg herausragten. Aus dem Zentrum des Seelenhorts drang ein mattes Glühen wie bei einer abgeblendeten Laterne, das langsam und gleichmäßig pulsierte. Auf den ersten Blick wirkte das Licht einheitlich, aber je länger Eragon hinsah, desto mehr Details konnte er erkennen: ein wild bewegtes Durcheinander aus verschlungenen Strudeln, die scheinbar willkürlich in alle Richtungen schossen, dunklere Teilchen, die sich kaum bewegten, und glitzernde, stecknadelkopfgroße Blitze, die kurz aufflammten und dann wieder mit dem darunterliegenden Lichtfeld verschmolzen. Der Eldunarí war ein lebendiges Wesen.
»Hier«, sagte Oromis und reichte Eragon einen robusten Leinensack.
Zu Eragons Erleichterung erlosch seine Verbindung zu Glaedr, sobald er den Seelenstein in dem Sack verstaut hatte und seine Hände nicht mehr dessen Oberfläche berührten. Noch immer aufgewühlt, drückte Eragon den Eldunarí an die Brust. Die Vorstellung, Glaedrs gesamtes Wesen in den Armen zu halten, erfüllte ihn mit Ehrfurcht. Gleichzeitig fragte er sich beklommen, was wohl passieren würde, wenn er den Stein fallen ließ.
»Danke, Meister«, brachte Eragon heraus und neigte den Kopf vor Glaedr.
Wir werden Euren Eldunarí mit unserem Leben beschützen,
fügte Saphira an.
»Nein!«, brauste Oromis auf. »Nicht mit eurem Leben! Genau das darf nicht geschehen. Lasst nicht zu, dass Glaedrs Seelenhort durch irgendeine Achtlosigkeit eurerseits ein Unglück widerfährt, aber opfert euch auch nicht auf, um ihn oder mich oder jemand anderen zu beschützen. Ihr müsst um jeden Preis am Leben bleiben, sonst zerschlagen sich alle unsere Hoffnungen und die Dunkelheit regiert.«
»Ja, Meister«, sagten Eragon und Saphira gleichzeitig, er mit seiner Stimme, sie mit ihrem Geist.
Da du Nasuada Treue gelobt hast, Eragon, schuldest du ihr deine Loyalität und deinen Gehorsam,
sagte Glaedr.
Deshalb darfst du ihr von meinem Seelenhort erzählen, aber nur wenn es unbedingt sein muss. Zum Wohle der wenigen Drachen, die es noch gibt, darf die Existenz der Eldunarí nicht allgemein bekannt werden.
Dürfen wir es Arya erzählen?,
fragte Saphira.
»Und was ist mit Bloëdhgarm und den anderen Elfen, die Islanzadi zu meinem Schutz geschickt hat?«, fragte Eragon. »Ich habe ihnen Zugang zu meinem Geist gewährt, als Saphira und ich das letzte Mal gegen Murtagh gekämpft haben. Sie werden deine Gegenwart bemerken, Glaedr, wenn du uns in der Schlacht hilfst.«
Du kannst Bloëdhgarm und seinen Elfenmagiern von dem Eldunarí erzählen, aber erst nachdem sie geschworen haben, das Geheimnis zu wahren.
Oromis setzte den Helm auf. »Arya ist Islanzadis Tochter, daher halte ich es für zulässig, wenn sie es erfährt. Allerdings gilt für sie dasselbe wie für Nasuada: Offenbart es ihr nur, wenn es absolut notwendig ist. Ein Geheimnis, das alle kennen, ist kein Geheimnis mehr. Wenn ihr es schafft, denkt möglichst nicht an den Eldunarí. Dann kann niemand das Wissen aus eurem Bewusstsein stehlen.«
»Ja, Meister.«
»Nun lasst uns aufbrechen«, sagte Oromis und streifte dicke Schutzhandschuhe über. »Ich habe von Islanzadi erfahren, dass Nasuada mit der Belagerung Feinsters begonnen hat und die Varden eure Hilfe brauchen.«
Wir haben zu viel Zeit in Ellesméra verbracht,
rief Saphira.
Vielleicht,
sagte Glaedr.
Aber ihr habt sie gut genutzt.
Mit einem kurzen Anlauf sprang Oromis auf Glaedrs verbliebenes Vorderbein und kletterte von dort auf den zackenbesetzten Rücken. Er setzte sich im Sattel zurecht und begann, die Beinriemen festzuziehen. »Während des Fluges«, rief der Elf zu Eragon hinunter, »gehen wir noch einmal die Liste der wahren Namen durch, die du bei deinem ersten Besuch gelernt hast!«
Eragon ging zu Saphira und kletterte vorsichtig auf ihren Rücken, wickelte den Eldunarí in eine Decke und verstaute das Bündel in einer Satteltasche. Dann legte auch er die Riemen um seine Beine an. Hinter ihm konnte er das unaufhörliche Pochen des Energiestroms spüren, der von dem Seelenhort ausging.
Glaedr trat zum Rand der Felsen von Tel’naeír und breitete die gewaltigen Schwingen aus. Die Erde erbebte, als der goldene Drache dem wolkenverhangenen Himmel entgegensprang, und die Luft donnerte
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