Die Weisheit des Feuers
Augen haben sie schon, also eine Hand? Oder lässt du mich hier liegen, bis ich verhungert bin oder das Imperium mich wieder eingefangen hat?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden.«
Sloan nickte trotzig und wickelte sich fest in seinen zerlumpten Umhang, um die heraufziehende Kälte der Nacht abzuhalten. So saß er kerzengerade da und starrte mit leeren Augenhöhlen in die Dunkelheit, die das Lager umgab. Er bettelte nicht. Er winselte nicht um Gnade. Er bestritt seine Untaten nicht, um Eragon zu besänftigen. Er saß einfach nur da und wartete, während seine stoische Unerschütterlichkeit ihn wie eine Rüstung einhüllte.
Seine Tapferkeit beeindruckte Eragon.
Die finstere Landschaft um sie herum erschien endlos. Doch es kam Eragon so vor, als laufe die ganze Weite bei ihm zusammen, ein Gefühl, das seine Beklommenheit über die vor ihm liegende Entscheidung noch steigerte.
Mein Urteil wird den Rest seines Lebens überschatten,
dachte er.
Er stellte für eine Weile die Frage der Bestrafung zurück und überlegte, was er eigentlich über Sloan wusste: die übermächtige Liebe des Metzgers zu seiner Tochter - besitzergreifend, egoistisch und krankhaft, auch wenn sie einst etwas Gutes gewesen war -, seine hasserfüllte Furcht vor dem Buckel, die von der Trauer um seine Frau Ismira herrührte, die in den wolkenverhangenen Gipfeln abgestürzt war; die Entfremdung von den verbliebenen Verwandten; der Stolz, mit dem er seine Arbeit verrichtet hatte; die Geschichten, die Eragon über Sloans Kindheit gehört hatte; und sein eigenes Wissen darüber, was es hieß, in Carvahall zu leben.
Eragon grübelte über dieser Sammlung einzelner bruchstückhafter Informationen aus Sloans Leben auf der Suche nach ihrer Bedeutung. Wie die Teile eines Puzzles versuchte er, sie zusammenzufügen. Das war gar nicht so einfach, aber er gab nicht auf. Mit der Zeit fand er eine Unmenge von Verbindungen zwischen den Ereignissen in Sloans Leben und den Emotionen des Mannes, die sich zu einem Netz verdichteten, dessen Muster ein Bild von Sloans Persönlichkeit ergab. Als der letzte Faden gesponnen war, hatte Eragon das Gefühl, die Gründe für Sloans Verhalten nachvollziehen zu können. Und deshalb empfand er nun Mitleid mit dem Metzger.
Aber es war mehr als das. Er fühlte, dass er Sloan jetzt verstand, dass er zum Kern seiner Persönlichkeit vorgedrungen war, zu jenen Bestandteilen, die man nicht wegnehmen kann, ohne den Menschen unwiederbringlich zu verändern. Da fielen ihm plötzlich drei Wörter aus der alten Sprache ein, die Sloan perfekt zu beschreiben schienen, und ohne darüber nachzudenken, flüsterte Eragon sie vor sich hin.
Obwohl Sloan nichts gehört haben konnte, rührte er sich plötzlich, griff sich an die Oberschenkel - und sein Gesichtsausdruck wirkte gequält.
Beim Anblick des Metzgers lief Eragon ein kaltes Kribbeln die linke Seite hinab und er bekam an Armen und Beinen eine Gänsehaut. Er zog eine Reihe von Erklärungen für Sloans Reaktion in Betracht, eine ausgefeilter als die andere, aber nur eine erschien ihm plausibel, doch auch sie kam ihm sehr unwahrscheinlich vor. Noch einmal flüsterte er zur Probe die drei Wörter. Wie zuvor bewegte sich Sloan unruhig auf der Stelle und Eragon hörte ihn murmeln: »... jemand geht über mein Grab.«
Eragon entfuhr ein zittriger Atemstoß. Er konnte es kaum glauben, doch das Experiment ließ keinen Zweifel zu: Er war ganz zufällig auf Sloans wahren Namen gestoßen. Die Entdeckung verwirrte ihn. Den wahren Namen eines Menschen zu kennen, brachte eine schwerwiegende Verantwortung mit sich, denn es verlieh einem absolute Macht über ihn. Deshalb verrieten die Elfen nur selten ihren wahren Namen, und wenn, dann nur jemandem, dem sie vorbehaltlos vertrauten.
Eragon hatte noch nie zuvor den wahren Namen eines anderen erfahren. Er hatte stets geglaubt, dass es einmal ein Geschenk von jemandem sein würde, der ihm sehr viel bedeutete. Dass er ohne dessen Zustimmung Sloans wahren Namen herausbekommen hatte, war eine Wendung der Ereignisse, auf die Eragon nicht vorbereitet war und von der er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Allmählich dämmerte es ihm, dass er Sloan besser kennen musste als sich selbst, denn er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sein wahrer Name lautete.
Diese Erkenntnis war ihm unangenehm, denn ihm schwante, dass es sich - in Anbetracht der Natur seiner Gegner - noch einmal als verhängnisvoll erweisen konnte, nicht alles über sich selbst zu
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