Die Weisheit des Feuers
den Tod oder Schlimmeres riskiert, nur um ein Feuer anzuzünden!
Denn wie Oromis ihn gelehrt hatte, waren Worte das Instrument, um die Freisetzung eines Zaubers zu kontrollieren. Nur so ließ sich verhindern, dass die Wirkung des Zaubers durch ein Abschweifen der Gedanken oder andere Ablenkungen verzerrt oder verfälscht wurde.
Eragon blickte sich um, suchte nach Hinweisen auf seinen Gastgeber. Er bemerkte eine offene Schriftrolle, die mit Textspalten in der alten Sprache bedeckt war, und erkannte sie als ein Kompendium wahrer Namen. Es ähnelte dem, das er in Ellesméra studiert hatte. Magier waren ganz versessen auf solche Schriften und Bücher und gaben fast alles dafür, sie zu besitzen. Sie dienten dazu, neue Zauberworte zu erlernen und auch eigene Sprüche darin zu notieren. Aber nur die Allerwenigsten wurden eines solchen Werkes habhaft, da sie extrem selten waren. Wer eines hatte, trennte sich nicht freiwillig davon.
Daher war es höchst ungewöhnlich, dass Tenga ein solches Kompendium besaß. Aber zu seinem Erstaunen entdeckte Eragon im Raum noch sechs weitere dieser Werke, unter zahllosen Schriften aus den Bereichen Geschichte, Mathematik, Astronomie und Botanik. Tenga stellte ihm einen gefüllten Bierkrug und einen Teller mit Brot, Käse und kaltem Fleisch hin.
»Danke«, sagte Eragon.
Der Alte beachtete ihn nicht weiter, setzte sich im Schneidersitz vor das Feuer und verzehrte murmelnd seine Mahlzeit.
Nachdem Eragon mit einem Stück Brot den Teller sauber gewischt und das ausgezeichnete Bier bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken hatte, fragte er Tenga, der ebenfalls aufgegessen hatte: »Wurde der Turm von den Elfen erbaut?«
Der Alte sah ihn durchdringend an, als würde die Frage ihn an Eragons Intelligenz zweifeln lassen. »Wer denn sonst? Natürlich haben die raffinierten Elfen Edur Ithindra gebaut.«
»Und was tust du hier? Bist du ganz allein oder -«
»Ich suche die Antwort!«, rief Tenga aus. »Den Schlüssel zu einer verschlossenen Tür, das Geheimnis der Bäume und Pflanzen. Feuer, Hitze, Blitze, Licht... Die meisten kennen nicht einmal die Frage und verbringen ihr Leben als Unwissende. Andere kennen sie, fürchten sich aber vor der Antwort. Pah! Seit Jahrtausenden leben wir wie Wilde! Wie Wilde! Dem werde ich ein Ende machen. Ich werde das Zeitalter des Lichts einläuten und alle werden mich dafür preisen.«
»Sag bitte, wonach genau suchst du?«
Tenga runzelte die Stirn. »Du kennst die Frage nicht? Ich dachte, das würdest du. Ich habe mich wohl getäuscht. Trotzdem, ich merke, dass du meine Suche verstehst. Du selbst suchst nach einer anderen Antwort, aber auch du bist ein Pilger. In unseren Herzen brennt das gleiche Feuer. Nur ein Pilger begreift, was wir opfern müssen, um die Antwort zu finden.«
»Die Antwort worauf?«
»Auf die von uns gewählte Frage.«
Er ist verrückt,
dachte Eragon. Er hielt nach etwas Ausschau, mit dem er Tenga ablenken konnte, als sein Blick auf eine Reihe kleiner Figuren von Waldtieren fiel, die auf einem Brett unter dem tropfenförmigen Fenster standen. »Die sind wunderschön«, sagte er und deutete darauf. »Wer hat sie erschaffen?«
»Das war
sie
... bevor sie ging. Sie hat ständig irgendwelche Dinge erschaffen.« Tenga sprang auf und legte die linke Zeigefingerspitze auf die erste Figur. »Hier, das Eichhörnchen mit dem wedelnden Schwanz... so klug und geschwind und gewitzt.« Sein Finger wanderte zum nächsten Tier. »Hier das Wildschwein mit den tödlichen Reißzähnen... Hier der Rabe mit...«
Tenga beachtete ihn nicht, als Eragon zurückwich, den Türriegel hob und aus dem Turm schlüpfte. Mit geschultertem Rucksack trottete er durch den Eichenhain hangabwärts und ließ die fünf Hügel und den wahnsinnigen Zauberer hinter sich.
In den Abendstunden und auch am nächsten Tag wurden die Menschen auf der Straße immer zahlreicher, bis es Eragon vorkam, als würden an jeder Biegung neue Leute dazukommen. Die meisten davon Flüchtlinge, obwohl auch Soldaten und reisende Händler darunter waren. Er vermied jeden Kontakt und hielt die meiste Zeit den Kopf gesenkt.
Allerdings hatte das zur Folge, dass er die Nacht in Eastcroft verbringen musste, einem Dorf zwanzig Meilen nördlich von Melian. Eigentlich hatte er die Straße lange vor seiner Ankunft in Eastcroft verlassen und sein Nachtlager in einer Senke oder Höhle aufschlagen wollen. Aber da er die Gegend nicht wirklich kannte, schätzte er die Entfernung falsch ein und
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