Die Weisheit des Feuers
Es amüsierte ihn, in welch haarsträubender Lage er sich befand: er, ein einfacher Bauernjunge aus dem Palancar-Tal.
Ich hätte mir nie träumen lassen, dass mir so etwas widerfährt,
dachte er.
Der Zauber, den er gebaucht hatte, bestand aus zwei Teilen. Der erste lenkte Lichtstrahlen um den Körper herum und ließ ihn so unsichtbar erscheinen. Der zweite sollte verhindern, dass andere Zauberkundige den Gebrauch von Magie bemerkten. Die größten Nachteile des Zaubers waren, dass er die Fußspuren nicht verbarg - deshalb musste man stocksteif stehen bleiben - und der eigene Schatten oft nicht völlig verschwand.
Als er sich unter dem Wacholder vorgearbeitet hatte, reckte Eragon die Arme über den Kopf, dann blickte er zu der Schlucht, aus der die Soldaten gekommen waren. Eine einzige Frage beschäftigte ihn, als er seinen Weg fortsetzte.
Was hatte Murtagh gesagt?
»Ahh!«
Die schleierhaften Trugbilder seiner Wachträume verschwanden, als Eragon mit den Händen in die Luft hieb. Er rollte sich weg von der Stelle, wo er gelegen hatte, krabbelte ein Stück zurück und sprang mit erhobenen Armen auf, um einen heransausenden Schlag abzuwehren.
Nächtliche Dunkelheit umfing ihn. Über ihm setzten die Gestirne ihren endlos kreisenden Himmelstanz fort. Am Boden regte sich kein einziges Geschöpf und er hörte nichts außer dem sanften Rauschen des Windes im Gras.
Eragon schickte seinen Geist aus, denn er war überzeugt, dass ihm ein Angriff drohte. Doch selbst im Umkreis von tausend Fuß konnte er niemanden entdecken.
Schließlich nahm er die Arme herunter. Sein Brustkorb hob und senkte sich, seine Haut brannte und er stank nach Schweiß. In seinem Kopf tobte ein Sturm: ein Wirbel aufblitzender Klingen und abgeschlagener Gliedmaßen. Einen Moment lang glaubte er, er wäre in Farthen Dûr und würde gegen Urgals kämpfen, dann wähnte er sich auf den Brennenden Steppen und kreuzte die Klingen mit Männern wie ihm. Beides erschien so real, dass er glaubte, von einem mächtigen Zauber durch Raum und Zeit transportiert worden zu sein. Er sah die von ihm getöteten Urgals und Menschen, die so lebensecht wirkten, dass er sich fragte, ob sie gleich zu ihm sprechen würden. Und obwohl er nicht mehr die Narben seiner Wunden trug, erinnerte sein Körper sich an die vielen erlittenen Verletzungen. Schaudernd spürte er wieder, wie ihm die Schwerter und Pfeile ins Fleisch fuhren.
Mit einem wilden Aufheulen sank Eragon auf die Knie, schlang die Arme um den Leib, schwankte vor und zurück.
Alles ist gut
...
Alles ist gut.
Er drückte die Stirn auf den Boden, rollte sich fest zusammen. Sein Atem strömte ihm heiß gegen den Bauch.
»Was ist nur los mit mir?«
In den Geschichten, die Brom in Carvahall erzählt hatte, waren die Helden der Vergangenheit nie von solchen Visionen heimgesucht worden. Keiner der ihm bekannten Varden-Krieger hatte je durchblicken lassen, dass das Blutvergießen ihm zu schaffen machte. Und obwohl Roran zugab, dass ihm das Töten missfiel, schreckte er nachts nicht schreiend aus dem Schlaf.
Ich bin schwach,
dachte Eragon.
Ein Mann sollte keine solchen Gedanken haben. Ein Drachenreiter sollte keine solchen Gedanken haben. Garrow oder Brom wäre es gut gegangen, das weiß ich. Sie taten, was sie tun mussten, und damit hatte es sich. Sie haben nicht rumgejammert und ewig nachgegrübelt und mit den Zähnen geknirscht... Ich bin schwach.
Er sprang auf und lief im Kreis um seine Schlafstatt im Gras, um sich zu beruhigen. Als ihm nach einer halben Stunde die Anspannung noch immer die Brust zuschnürte und seine Haut kribbelte, als würden darauf Tausende Ameisen herumkrabbeln, packte Eragon kurzerhand seine Sachen und rannte los. Ihm war gleich, was ihn in der unbekannten Dunkelheit erwartete oder wer seinen überstürzten Aufbruch bemerken mochte.
Er wollte nur seinen Albträumen entfliehen. Sein Geist hatte sich gegen ihn gewandt und er konnte sich nicht darauf verlassen, dass sein Verstand die aufwallende Panik vertreiben würde. Seine einzige Hoffnung lag darin, der animalischen Weisheit seines Fleisches zu vertrauen, und es forderte ihn auf, sich zu
bewegen
. Wenn er schnell und lange genug rannte, konnte er sich vielleicht wieder im Hier und Jetzt verankern. Vielleicht würden die kühle Nachtluft auf seiner Haut, das Geräusch seiner Schritte, die Nässe seines Schweißes und die Myriaden anderer Sinneseindrücke ihn durch ihre Übermacht dazu zwingen, zu
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