Die weiße Hexe
Chief Bole jede Kreditwürdigkeit. Um ihn für seine Gastfreundschaft zu bezahlen, fehlte uns das Geld. Er lieh uns nicht mal den Käfer, denn das wäre einer Investition gleichgekommen. Eine Investition in John und mich? Der mittellose John galt nicht viel, und ich galt weniger als er. Das hatte ich nicht bedacht, als ich meinen Vater heimgeschickt hatte. John und ich zogen noch am selben Abend aus dem Haus von Chief Bole aus. Hatte ich mich ein paar Tage zuvor noch über den blauen Käfer lustig gemacht, so vermißte ich das Ding jetzt um so schmerzlicher. Wenn wir nicht laufen wollten, waren wir auf teure Taxis angewiesen.
Bis es mir vergönnt war, die Schönheit Afrikas zu entdecken, vergingen noch Monate. Was ich jetzt erlebte, empfand ich zunächst als Abstieg. Ich brauchte einige Zeit, um zu verstehen, daß es eine Chance war. Die Chance, ein Land so kennenzulernen, wie es wirklich ist - nämlich aus der Sicht der Afrikaner. Aber daran dachte ich an jenem Abend nicht ...
In Agege, einem der ärmsten Stadtteile von Lagos, hielt das Taxi irgendwo auf einer nicht asphaltierten Straße an. Ich dachte schon, das Benzin wäre uns ausgegangen. Irrtum. John stieg aus, als hätte er nichts anderes vor, als den nächstbesten Haufen Müll neben uns zu untersuchen.
„John, was machen wir hier?“
Er deutete in die Ferne. „Dahinten liegt das Haus.“
Was ich sah, war ein stinkender Fäkaliengraben, der parallel zur Straße verlief, in großen Abständen hatte man lose Bretter zum Überqueren darübergelegt. Jenseits des Grabens rotbraunes, staubiges Land, in großen Abständen schlichte Hütten mit rostigen Blechdächern, mal aus unverputztem Stein, mal aus Lehm, dazwischen Palmen und zerfranste Bananenstauden. Dazwischen jagten nackte Kinder schmutzige Schweine. Und überall Papier- und Plastikreste. Eine unglückliche Mischung aus den Schattenseiten westlicher Zivilisation und urwüchsigem Afrika.
Es begann zu dunkeln. Mein Noch-Ehemann eilte munter voraus, ich mit meinen zwei Koffern hinterher, eine Schar kleiner Kinder im Schlepptau, die „oi-bo, oi-bo“ riefen. Das schrien sie immer, wenn ich in der Gegend unterwegs war. So wie man den Almkühen eine Glocke um den Hals hängt, damit der Bauer sie wiederfindet. Riefen die Kinder „oibo, oibo“, wußte John, daß er mit mir rechnen mußte, denn öylbo heißt in der Sprache der Yoruba „Europäer“ und wird als Synonym für Weiße gebraucht.
Vor einer wellblechgedeckten, langgestreckten Hütte hatte der Marsch ein Ende. Wir gingen um die Hütte herum, auf den „Hof“.
Eine vielfältige Mischung an Gerüchen empfing mich. Über dem stechenden Geruch aus den offenen Fäkalienkanälen hing der süßschwere Duft der Hibiskusbüsche, dazu kam der Gestank frei herumlaufender Ziegen. Von einem offenen Holzfeuer stieg beißender Qualm auf. Meine Kleidung klebte auf der Haut, ich schwitzte und fühlte mich völlig fehl am Platze.
Aus der Hütte traten an die zehn Frauen, in deren Mitte mir eine sofort auffiel. Sie überragte die anderen um Haupteslänge, war sehr schlank und viel heller als die anderen. Sie war sorgfältig zurechtgemacht, trug eine Kombination aus einer Bluse und zwei Tüchern
aus demselben Damaststoff, von denen sie eines als Rock um die Taille gewickelt hatte, so daß es bis zu den Knöcheln herabfiel; das andere hatte sie sich über die Schultern gelegt. Ihre Haare waren kunstvoll geflochten und in kleinen Zöpfen um den Kopf gelegt. Die tiefschwarzen Augen waren mit Antimon umrandet, ihre Hand-und Fußnägel mit Henna rot gefärbt. Sie mochte höchstens zwanzig sein und war hochschwanger. John stellte sie mir als seine Schwägerin Rhoda vor. Mich präsentierte er nicht etwa als Ilona. Mit meinem Eintritt in seine Welt gab John mir einen neuen Namen: Mama Okeoghene. Okeoghene war der zweite Vorname Janets und bedeutete auf deutsch „Gottesgeschenk“.
„Es ist in meinem Land unhöflich, wenn du mich mit meinem englischen Vornamen John ansprichst, als ob ich dein Diener wäre.
Auch der Name meiner Eltern ist für dich tabu. Nenn mich einfach Papa Ajiri. Schließlich ist Ajiri unser erstgeborener Sohn“, führte John-Papa-Ajiri aus. Ajiri heißt in Johns Sprache „Dem Himmel sei Dank“ und ist Bobbys nigerianischer Zweitname.
Die Hütte hatte sechs Räume - einen bewohnte der Hausherr mit seiner schwangeren Frau Rhoda, einen hatte man für uns freigemacht. Jeder der restlichen vier Räume war an ganze Familien vermietet, so daß das
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