Die weiße Macht
Er war noch ziemlich jung gewesen und hatte zu der Zeit überhaupt nicht daran gedacht, einem Orden beizutreten. Das war erst später über ihn gekommen. Er hatte es als Berufung verstanden und fragte sich nun, ob es nicht mehr ein Fluch gewesen war, denn an die Zukunft, die für ihn von der Vergangenheit bestimmt wurde, wollte er gar nicht denken.
Er schüttelte sich, weil er plötzlich einen kalten Schauer auf seinem Rücken spürte.
Dann saß er starr. Vor der Tür hatte er die leichten Schritte gehört.
Etwas kratzte im Schloß, der Knauf bewegte sich, die Tür war nicht mehr verschlossen und wurde aufgestoßen.
Sie betrat die Kabine!
Der Monsignore hielt den Atem an. Er hatte sie nie richtig gesehen, er wußte überhaupt nicht, wie sie sich entwickelt hatte, wie sie jetzt aussah, doch nun glaubte er, ihre Mutter zu sehen. Die Schönheit der Frau überraschte ihn.
Sie schloß die Tür.
Dann schaute sie ihn an und lächelte. Bentini brachte kein Wort hervor, das übernahm die Frau, als sie sagte: »Hallo, Vater…«
***
Monsignore Bentini vereiste. Diese beiden Worte hatten ihn deshalb so geschockt, weil sie in der Form noch nie zu ihm gesagt worden waren.
Vater… er mußte schlucken. Es stimmte ja, sie hatte recht, er war ihr Vater, dazu brauchte er sie nur anzusehen und sich an ihre Mutter zu erinnern, dennoch fragte er: »Amelia…?«
»Du erinnerst dich an meinen Namen?«
»Wie könnte ich ihn je vergessen? Wenn ich mich nicht irre, habe ich ihn sogar ausgesucht.«
»Er gefällt mir auch.«
»Aber das war damals, das ist schon so lange her, Amelia. Heute leben wir ajnders. Die Welt hat sich geändert, du weißt, in welcher Position ich stehe…«
»Ich weiß viel über dich.« Sie löste sich von der Tür, ging zum Tisch, drehte sich einen Stuhl zurecht und ließ sich auf der gepolsterten Sitzfläche nieder. »Ich habe dein Leben zwar nicht verfolgen können, aber im Prinzip weiß ich Bescheid.«
»Dann brauche ich dir ja nicht viel zu erklären, Amelia«, murmelte der Mann.
»Nein, das brauchst du nicht.« Sie hatte die Antwort in einem harten Tonfall gesprochen, der Bentini erschreckte. Etwas unsicher öder verstört blickte er sie an, entdeckte das kalte Lächeln auf ihren Lippen und konnte auch einen Blick in die Augen werfen, die auf eine ungewöhnliche Art funkelten.
Sie waren sehr hell, eigentlich zu hell, beinahe schon… nein, das durfte nicht wahr sein.
Golden?
Bentini hielt den Atem an, während seine Gedanken fieberhaft arbeiteten. Hatte er einen ähnlichen Ausdruck nicht auch in den Augen Lorenzo Ambers gesehen?
Als er fragen wollte, senkte Amelia die Augenlider und hob die Schultern.
»Hast du je damit gerechnet, mich wiederzusehen?«
»Nein, nicht.«
»Damals hast du meine Mutter verlassen!«
»So war es nicht ganz. Sie wollte weg von mir. Sie hat den falschen Weg eingeschlagen. Sie hat sich mit Menschen zusammengetan, die nicht gut waren. Sie hat sich in gewissen Zirkeln aufgehalten, die andere Götter anbeteten. Ich habe alles versucht, um sie zurückzuhalten, aber ich war zu schwach. Zudem spürte ich die Berufung und bin in den Orden eingetreten.«
»Ja, das weiß ich, Vater, und ich weiß auch, daß du jetzt zur Weißen Macht gehörst, und in dieser Organisation einen ziemlich hohen Posten bekleidest.«
Nur innerlich zuckte er zusammen, äußerlich hatte er sich in der Gewalt.
»Du kennst die Weiße Macht?«
»Mehr als du denkst, und das ist nicht mal übertrieben.«
»Woher?«
»Ich muß doch die Menschen kennen, die auf der anderen Seite stehen, Vater.«
»Was soll das heißen?«
»Die Weiße Macht ist nicht nur mein Feind, sondern sogar mein Todfeind.«
Bentini stieß die Luft durch die Nase aus. »Das darf nicht wahr sein!« flüsterte er, »sag mir, daß du lügst, Amelia. Sag es, verdammt noch mal! Du lügst!«
»Überhaupt nicht.«
»Aber…«
Sie hob einen Finger, und er schwieg. »Ich denke dabei an meine Mutter. Du hast vorhin von einem falschen Weg gesprochen, den sie angeblich gegangen ist. Für mich aber war es der richtige Weg, will ich dir sagen. Nicht der falsche. Ich bin ihre Erbin, und ich bin in die Fußstapfen getreten.«
Für Bentini brach eine Welt zusammen. Er hatte den Eindruck, in den Boden gestampft zu werden. Was ihm hier eröffnet wurde, war so schlimm, daß er sich weigerte, es zu glauben. Die Frau vor ihm, seine Tochter, sie… sie war diejenige, die auf der anderen Seite stand und es der Weißen Macht verwehrte, an die
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