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Die weiße Mafia: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen (German Edition)

Die weiße Mafia: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen (German Edition)

Titel: Die weiße Mafia: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Wittig
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allem für die Patienten.
    Auf Station in der Urologie bittet Linda Bertram den Kameramann und mich, einen Moment vor der Tür zu warten. »Ich frage den Patienten, ob er einverstanden ist, dass Sie mit reinkommen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er was dagegen hat.«
    In dem Einzelzimmer liegt ein hochbetagter Mann mit dünnem, weißem Haar. Er ist groß und muss einmal stattlich gewirkt haben. Jetzt, wo die Haut über seine Knochen spannt und die Augen tief in den Höhlen sitzen, wirkt er gebrechlich und schwach. Er leidet sehr unter den Nebenwirkungen der Chemotherapie. Linda Bertram fragt den Patienten nach der Übelkeit, die ihm das Essen in den letzten Tagen unmöglich machte. Keine Besserung. Auch die letzte Änderung in der Medikation hat nichts gebracht. Nicht einmal Wasser trinken kann der Patient, ohne dass ihm übel wird. Flüssigkeit bekommt er per Infusion. Das hat zur Folge, dass sein Mund vollkommen ausgetrocknet ist, worunter er besonders leidet. Es kostet mich einige Anstrengung, die stimmlosen Worte zu verstehen, die er mühsam hervorbringt: »Solange dieser Mund so ausgetrocknet und versteint ist – der Mund ist ja regelrecht versteint –, so lange kann ich nichts essen.«
    Linda Bertram weist den Bettlägerigen darauf hin, wie wichtig in seinem Fall die Mundpflege ist. Doch der sagt, dass er das entsprechende Gel schon anwende. Da empfiehlt Linda Bertram einen Trick: »Was ganz gut bei dieser Sache Abhilfe schafft: so kleine Eiswürfel lutschen … Was mögen Sie denn gerne an Säften?« Der Patient überlegt kurz: »Am liebsten Champagner.«
    Wer die Medizinerin und den Patienten in diesem Moment zusammen lachen sieht, kann kaum glauben, dass sich die Szene in einem Krankenzimmer abspielt, bei einem Tumorpatienten, der keine Aussicht auf Heilung hat. Der Mann ist in seinem Leben weit herumgekommen. Er war im diplomatischen Dienst, hatte – wie man so sagt – ein erfülltes Leben. Jetzt wirkt er in diesem Zimmer wie der Gefangene einer medizinischen Apparatur, die sich verselbstständigt hat. Die ihn – auf Teufel komm raus – zu heilen versucht. Der behandelnde Urologe hatte ihm noch an diesem Vormittag Mut gemacht. Sogar von Heilung gesprochen! Doch der Patient sieht das anders, und das sagt er der Ärztin, die an seinem Bett sitzt und aufmerksam zuhört, mit ganz klaren Worten: »Aber ich gehe ja auch von meinem persönlichen Empfinden aus. Und da merke ich, es kann nicht gelingen. – Es wäre schön wenn …«, er zögert, blickt der Ärztin hilfesuchend in die Augen, diese vervollständigt den Satz: »… aber Sie spüren, dass das anders sein wird.« »Das denke ich«, sagt der Patient und nickt. Er wirkt unmittelbar erleichtert. Seine angestrengten Züge entspannen sich. Endlich ist da jemand, der mit ihm zusammen anerkennt, dass die Schlacht geschlagen ist. Der ihm signalisiert: Du kannst jetzt aufhören zu kämpfen. Komm zu uns unter den Mantel. Wir bergen dich, bis es zu Ende ist. Leider geschieht das viel zu selten und oft zu spät in unseren Krankenhäusern. Zu oft ringen heroische Mediziner bis zum bitteren Ende um das Leben von Patienten, die das längst nicht mehr wollen.
Ehrgeiz, Unsicherheit, Mühe, den Tod zu akzeptieren
    In dem Aufsatz »Übertherapie am Lebensende? Gründe für ausbleibende Therapiebegrenzung in Geriatrie und Intensivmedizin« 70 definieren die Autoren diese überflüssige Medizin so: »Im qualitativen Sinn nutzlos sind […] medizinische Interventionen dann, wenn sie weder zu einer Verlängerung des Lebens noch zu einer Zunahme der Lebensqualität führen und auch die Qualität des Sterbeprozesses nicht verbessern.« In dem Aufsatz wird eine Befragung von Ärzten und Pflegepersonal zum Thema Überbehandlung vorgestellt. »Kennen Sie Situationen, in denen Therapieabbruch oder Therapieverzicht sinnvoll gewesen wäre, aber nicht durchgeführt wurde?«, lautete eine der Fragen. 76 Prozent der Ärzte und 86 Prozent der Pfleger beantworteten die Frage mit Ja. In der chirurgischen Intensivstation erreichte die Ja-Antwort sogar 93 Prozent. Damit ist das Ausmaß der Übertherapie bei »terminal Kranken« noch nicht exakt beziffert. »Kennen Sie Situationen …« lässt eine Abschätzung der Häufigkeit der Situationen nicht zu. Aber gleichwohl wird klar, dass es sich dabei um ein allseits bekanntes Phänomen handelt.
    In einer Tabelle zu den Gründen für die »nicht durchgeführte Therapiebegrenzung, obwohl diese aus professioneller Sicht sinnvoll

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