Die weiße Mafia: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen (German Edition)
Dimension des Themas verdeutlichen möchte, liefert die Schilderung eines einzigen Vorkommnisses (Fallzahl: n = 1) aber oft mehr Informationen. Deshalb möchte ich zum Abschluss dieses Kapitels noch einmal ein solches Beispiel für blindwütige Medizin am Lebensende anführen. Eine Medizin, die in den ausgefahrenen Spuren eingeübter Prozeduren weiterläuft, ohne sich die Situation zu vergegenwärtigen, die in der folgenden Schilderung eher einer Vergewaltigung gleicht als einem Rettungsversuch.
Wie wollen wir sterben? So nicht!
Der Berliner Rettungsmediziner Dr. Michael de Ridder schildert in seinem Buch Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin 72 diesen Fall: Zufällig ist er hinzugekommen, als Kollegen von der Rettungsmedizin eine 86-jährige Patientin behandelten. Er gibt eine erschreckende Schilderung der Vorgänge.
Die Patientin aus einem Seniorenheim sei ohne Bewusstsein und mit unzureichender Atmung aufgefunden worden. Schon zwei Tage habe sie in ihrer Wohnung so dagelegen. Als de Ridder die Szene betrat, habe die Greisin nackt und reglos, mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen auf einem Bett in der Intensivstation gelegen.
De Ridder schildert, wie seine Kollegen die medizinische Infrastruktur zur Messung des Blutdruckes, zur Ableitung des EKGs und zur künstlichen Harnableitung an der bewusstlosen Greisin installieren. Als die Verkabelung komplett ist, verschlechtert sich der Zustand der 86-J ährigen noch einmal dramatisch: Bei der versuchten Wiederbelebung der Greisin mit Beatmung und Herzmassage habe der leitende Arzt seinen jungen Kollegen angeherrscht, nicht so zaghaft zu massieren. Man müsse das Knacken der Rippen hören.
De Ridder fragte daraufhin seine Kollegen, warum sie das täten. Der Oberarzt sah ihn an wie einen Außerirdischen und erklärte, die Greisin habe einen ausgedehnten Schlaganfall, Ateminsuffizienz und ein Linksherzversagen erlitten. Das seien doch Gründe genug für die Anwendung lebensrettender Maßnahmen. Aber sie sei doch nicht mehr zu retten, wandte de Ridder ein. Da belehrte ihn der Oberarzt, dass dies erst der Fall sei, wenn der Monitor anhaltend eine Nulllinie zeige und die Pupillen lichtstarr seien. Das könne er ja mal in seinem Pathologielehrbuch nachschlagen.
Dann beobachtet de Ridder, wie seine Kollegen noch einmal rettungstechnisch aufrüsten, Medikamente injizieren und den leblosen Körper der 86-J ährigen so lange mit Elektroschocks traktieren, bis Rauch über den versengten roten Malen auf ihrer Brust aufsteigt. An der Nulllinie auf dem Monitor änderte sich dadurch nichts. Dann endlich, nach einem letzten Zucken des Kiefers, habe die Greisin reglos dagelegen. Sie war tot.
18 Arztkontakte pro Jahr
Sind wir Medizinjunkies?
Die Deutschen sind Weltmeister im »Zum Arzt gehen«. 18 Mal pro Jahr haben wir im Schnitt Arztkontakt. Sie können das kaum glauben? Mir fällt das auch schwer, aber so steht es im GEK Report ambulant-ärztliche Versorgung 2008 der Gmünder Ersatzkasse. Das wollten wir in unserem SWR-Wissenschaftsmagazin Odysso zum Thema machen. Für eine Sendung mit dem Arbeitstitel »Land der Gesundheitshysteriker« reise ich nach Berlin zu einem Hausarzt, der unser Gesundheitssystem quasi »von außen« beurteilen kann, weil er 20 Jahre in Norwegen als Hausarzt gearbeitet hat. Dort gehen die Menschen im Schnitt nur viermal pro Jahr zum Arzt. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – leben die Norweger etwa ein Dreivierteljahr länger als wir Deutschen. Noch eine Vergleichszahl gefällig? Die Norweger haben 2,9 Krankenhausbetten pro tausend Einwohner. Die Deutschen 5,7! 73 Das sind fast doppelt so viele. (Im OECD Health-Report Europe 2010 haben die Deutschen sogar 8,2 Betten pro tausend Einwohner und die Norweger 3,5.) Diese Betten wollen belegt werden. Und die Hausärzte stehen bei uns als fleißige Überweiser am Anfang der Zulieferungskette.
Im Wartezimmer von Dr. Harald Kamps hängt ein Warnschild. Darauf steht: »Vorsicht! Sie verlassen Ihr persönliches Lebensumfeld und betreten das Gesundheitssystem. Das birgt Risiken und Nebenwirkungen. Sprechen Sie darüber mit Ihrem Arzt.« Das ist nicht lustig gemeint! Harald Kamps, ein Mittfünfziger mit sympathischer und ruhiger Ausstrahlung, erinnert sich noch genau, wie das deutsche Gesundheitswesen auf ihn wirkte, als er aus Norwegen hierher zurückkam:
»Was einen überrascht, ist die hohe Temperatur im deutschen
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