Die Weiße Rose
Distanzierung von allem, was Nationalsozialismus hieß, Entzug der direkten oder indirekten Unterstützung der NS -Partei, Hilfe für die Unterdrückten, Unterstützung der Juden, wo immer es noch eine Möglichkeit gab, Solidarisierung mit Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen, Einübung in wirksame Verweigerungen und Unterlassungen, Training des getarnten Boykotts; sich als Glied einer großen Kette des europäischen Widerstandes zu wissen, die sich von Frankreich über Holland, Belgien, Skandinavien bis Osteuropa spannte. Die Solidarität mit den anderen europäischen Widerstandsgruppen schien meinem Bruder viel zu bedeuten; denn er sah im Zweiten Weltkrieg das Ende des Nationalismus gekommen, eines Nationalismus, der den gefährlichen Keim des Faschismus in sich trug.
Was unter passivem Widerstand zu verstehen war, ist in dem Flugblatt der Weißen Rose Nr. III ausgesprochen [Seite 84 – 87 ].
Im passiven Widerstand sahen jene Studenten die Kunst des Möglichen. Er sollte das Handeln in kleinen und kleinsten Schritten aktivieren, das jedem zugemutet werden konnte. Gemeint war: sich auf das Erreichbare zu konzentrieren, ohne das Ziel aus dem Auge zu lassen; herauszutreten aus der panischen Angst und der mörderischen Gleichgültigkeit. Der Resignation und der Apathie sollten überlegtes Handeln, Wendigkeit und Einfallsreichtum im alltäglichen Leben entgegengesetzt werden.
Erschwerend für den deutschen Widerstand war es, dabei offenbar gegen den eigenen Staat, gegen die eigene Nation und ihre Interessen opponieren zu müssen. Das war für viele ein schwerwiegender Konflikt, in dem sie sich mühsam zurechtfanden. Meine Geschwister aber hatten es als ein Scheinproblem erkannt. Hinter dem Widerstand der anderen europäischen Nationen gegen die faschistisch-deutsche Besatzungsmacht stand die Solidarität des jeweiligen Volkes. In Deutschland war es nicht so. Aber im Verzicht auf diese Solidarität des eigenen Volkes kristallisierte sich der Kern des Widerstandes gegen den Faschismus um so deutlicher heraus. Es ging zuallererst um die Rettung menschlicher Souveränität, um die Verteidigung einer freien Gesellschaft und ihrer humanen Errungenschaften, die in allen Völkern bis in unser Jahrhundert hinein mühsam, unter Opfern und gegen Unverständnis hatten erkämpft werden müssen (ein Kampf, der noch lange weitergehen wird). Es ging darum, sich zu wehren gegen die hereinbrechende Gefahr eines neuen Barbarismus, gegen die Legalisierung des Völkermordes, gegen eine freibeuterisch-elitäre Doktrin von Rasse und Staat.
Das Gemeinsame der Menschheit war zu verteidigen, war über die Interessen der eigenen Nation zu stellen. Das Gemeinsame aller Nationen und Rassen, das größer und unvergleichlich wichtiger ist als es Unterschiede sind, mußte gerettet werden. Die Nation als historische und gesellschaftliche Größe erhielt von da her ihren Stellenwert. Man verstand den Zweiten Weltkrieg, unter dessen Deckmantel auch die Vernichtung der Juden betrieben wurde, als einen Krieg der Gewalttäter gegen Schwächere, gegen Andersdenkende, gegen Andere. In einem solchen Kampf hatte jeder menschlich Verantwortliche Solidarität mit den Opfern zu zeigen. Gerade die Politik der Unterdrückung, die jener Staat angeblich im Interesse der Nation betrieb, ließ eine übergeordnete neue Gemeinsamkeit erkennbar werden.
Der politische Ansatz meiner Geschwister war zunächst einfach: sie erkannten unreflektiert die parlamentarische Demokratie an, vor allem die der Angelsachsen. Aber das stand nicht im Vordergrund. Entscheidend war, daß ihr Ja zum NS -Regime sich zu einem eindeutigen Nein entwickelte. Aus den allmählich sich einstellenden Zweifeln wurde massive Ablehnung; schließlich suchten sie einen Ausweg nicht in einer theoretischen Konzeption konkreter Möglichkeiten, sondern in dem Willen zur pragmatischen Veränderung.
Selbstverständlich wurde die Politik mehr und mehr auch zur theoretischen Passion. Hans Scholl spielte mit dem Gedanken, – nach dem Krieg in einem befreiten Deutschland – von der Medizin zur Geschichte und Publizistik, möglicherweise zur Politik überzuwechseln.
Die Vorstellung von dem, was
danach
kommen sollte, war bei jenen Studenten jedoch eher eine Ahnung als ein Konzept. Vermutlich sollte die Überwindung des Nazismus von innen heraus das Konzept für die Zukunft erst ermöglichen.
Den Nationalismus, vor allem den bürgerlichen, hatten diese Studenten in fast respektloser Weise überwunden. Sie
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