Die Weiße Rose
hatten für das Politische einen wachen Sinn, der jedoch nicht ideologisch bestimmt war, sondern soziologisch: sie interessierte die Gesellschaft. Im Vordergrund stand das Versagen der deutschen Intelligenz, dessen sie sich voll bewußt waren. Deshalb sprachen sie, vor allem im ersten Flugblatt, in der Sprache des Bürgers und beriefen sich auf große Deutsche wie Schiller und Goethe. Sie versuchten vor allem das Bildungsbürgertum zu erreichen. Sie versuchten, in der deutschen Intelligenz ein schlechtes Gewissen zu wecken – und schließlich den inneren und äußeren Protest zu provozieren. In dem Tagebuch, das mein Bruder im Herbst 1942 schrieb, als er an der russischen Front als Sanitäter im Einsatz stand, finden sich die Worte:
»Der Mensch ist zum Denken geboren, sagt Pascal, zum Denken, mein verehrter Akademiker, dieses Wort mache ich dir zum Vorwurf. Du wunderst dich, Vertreter des Geistes! Ein Ungeist ist es, dem du dienst in dieser verzweifelten Stunde. Aber du siehst die Verzweiflung nicht; du bist reich, aber du siehst die Armut nicht. Deine Seele verdorrt, weil du ihren Ruf nicht hören wolltest. Du denkst nach über die letzte Verfeinerung eines Maschinengewehrs, aber die primitivste Frage hast du schon in deiner Jugend unterdrückt. Die Frage: warum? und wohin?«
Mein Bruder ging davon aus, daß die Intelligenz aufgrund ihrer Einsichten eine größere Verantwortung hatte. Aber er wollte nicht, daß sie nur reflektierte, sie sollte durch politisches Engagement ihre Rolle erweitern und durch Aktionen einen anderen Stellenwert gewinnen.
Bei dieser Rigorosität des Denkens spielte die Entdeckung des Christentums eine entscheidende Rolle. Sie vollzog sich bei meinen Geschwistern gleichzeitig mit der Entwicklung ihrer politischen Autonomie. Die kirchliche Hierarchie war in jenen Jahren durch ihr anfängliches Bündnis mit dem Nationalsozialismus kompromittiert und schwieg; ungezählte Christen aber waren in den Untergrund, teilweise in den Widerstand gegangen. Ihre Standhaftigkeit, ihre Verläßlichkeit und ihr Selbstbewußtsein waren ermutigend. So tat sich ein Zugang zum Christentum auf, der nicht durch kirchliche Beiläufigkeiten verstellt war. Durch Freunde und Publizisten wie Carl Muth und Theodor Haecker partizipierten sie an dem existenzphilosophischen Dialog um Kierkegaard, Augustinus und Pascal. Andererseits entdeckten sie die Rationalität der Hochscholastik als ein Denken von hohem Rang; ein Dialog zwischen der modernen Welt und der Religion schien ihnen möglich. Anders als später in der Restauration der fünfziger Jahre waren sie sich bewußt, daß das Abendland ein vorübergegangenes historisches Faktum war. Ein Dialog zwischen Maritain, dem eher konservativen französischen Philosophen, der sich aber den Weltentwicklungen offenhielt, und Jean Cocteau, dem avantgardistischen Schriftsteller, über Theologie und Surrealismus machte ihnen Eindruck.
Das Christentum, wie es sich ihnen eröffnete, ging einher mit einer immer gegenwärtigen Kritik – Wachsamkeit hätten sie es damals nennen können –, die wie ein umsichtiger Gefährte ihren Weg in ein Niemandsland begleitete. Eine erregende Weite der geistigen und existentiellen Möglichkeiten tat sich auf, ein Spielraum, in dem das sich entfaltende Denken keine Sperren duldete.
Es konnte sich eine Beziehungslinie ergeben von expressionistischen Malern zur modernen Theologie und bis zur politischen Aktion. Man brauchte nicht aus der zweiten Hand zu leben, den Maler gab es nur noch in der Werkstatt, wo man ihn aufsuchte: seine Werke waren verboten. Den Philosophen fand man in der persönlichen Diskussion: seine Bücher waren aus dem Handel. Man war zugegen, wie Gedanken entstanden, nicht wie sie konsumiert wurden. Hier entfaltete sich eine Freiheit und Energie des Denkens, die letztlich den Willen zum Handeln erwecken konnte.
Einige wenige Studenten nahmen es auf sich, unter der Allgegenwart der Diktatur zu agieren; sie nahmen die Einsamkeit auf sich, konnten nicht einmal mit Angehörigen darüber sprechen; sie akzeptierten, daß die Allmacht der staatlichen Organe ihnen keinen Spielraum ließ; sie gaben sich damit zufrieden, Risse zu erzeugen, statt Ecksteine herauszusprengen. Mehr konnten und wollten sie nicht, und sie waren bereit, mit allem zu bezahlen, was sie hatten und waren.
Urteile des Volksgerichtshofs
Im Namen des Deutschen Volkes
In der Strafsache gegen
1 .) den Hans Fritz Scholl aus München, geboren in Ingersheim am 22
Weitere Kostenlose Bücher