Die weissen Feuer von Hongkong
ihm leicht über den Haarschopf. »Wir sprechen noch darüber. Möchtest du ein bißchen mit mir auf die Hügel klettern? Oder hast du etwas vor?«
Der Junge war sofort einverstanden. Die fremde Frau gefiel ihm. Sie hatte eine freundliche Art. Der Vater hatte Bert schon vor langer Zeit gesagt, daß sie bei ihnen bleiben würde.
»Ich habe nichts vor«, rief er unternehmungslustig. »Ich bringe nur mein Sportzeug nach oben. Wohin gehen wir?«
»Wohin möchtest du? Auf den Peak? Oder zur Repulse Bay?«
Der Junge zögerte einen Augenblick. »Am Peak ist nichts los. Und in Repulse Bay wimmelt es von Touristen. Am liebsten gehe ich nach Aberdeen, wenn ich Zeit habe.«
»Also gut«, erklärte sie sich bereit. »Aberdeen. Das wird mir auch gefallen.«
Er huschte aus dem Gästezimmer; sie rief ihm noch nach: »Ich warte draußen und werde inzwischen eine Rikscha rufen.«
Der Portier schmunzelte, als sie an ihm vorüberging. »Ein bißchen ausfliegen?«
Judith nickte flüchtig. Sie war froh darüber, daß der Junge sich ihr ohne Vorbehalte anvertraute. Er hatte viel Ähnlichkeit mit Fred. Sie würde ihm heute noch manches erklären müssen. Die Zutraulichkeit des Jungen hatte ihr die Furcht davor genommen. Einmal hatte Fred sie, als sie über Bert sprachen, scherzhaft erinnert: »Du warst lange genug Kindermädchen und bist mit Kindern zurechtgekommen. Warum nicht auch mit ihm?«
Sie hatte nur nachdenklich erwidert: »Ich möchte aber nicht sein Kindermädchen werden, sondern ...«
Da hatte er sie geküßt und den angefangenen Satz beendet: »Seine Mutter, ich weiß. Hab keine Sorge, Bert ist mein Sohn. Er wird dich ebenso gern haben wie ich.«
Es schien, als sollte sich seine Voraussage bestätigen.
Sie winkte einem Rikschafahrer und sagte: »Nach Aberdeen. Wieviel?«
»Das ist weit«, begann der Fahrer vorsichtig den Handel, »sagen wir - zwei Dollar?«
Noch bevor der Mann das Geld eingesteckt hatte, kam Bert angelaufen. Er hatte sein Haar gekämmt und die Sportkleidung mit einem bunten Hemd vertauscht. Sie stiegen in das kleine, ein wenig wacklige Gefährt. Etwas mehr als eine halbe Stunde Fahrt lag vor ihnen. Zeit genug, um über vieles zu sprechen.
Das Fischerdorf Aberdeen, ganz im Süden der Kolonie gelegen, war die »Wiege Hongkongs«, wie es die Einheimischen nannten. Lange bevor die Engländer hierherkamen, war es unter den Fischersleuten und Dschunkenfahrern als »Heung Kong« bekannt gewesen, das heißt »Duftender Hafen«. Dieser »Duftende Hafen« war einer der gefürchtetsten Stützpunkte der chinesischen Küstenpiraten, die zu den größten Gefahren für die Handelsschiffahrt zählten. Während die Piratendschunken scheinbar auf friedlichen Fischfang fuhren, standen die halbwüchsigen Kinder der Piraten auf den Hügeln von Aplichau und hielten Ausschau nach Frachtschiffen. Auf ein Rauchsignal wurden auf den Dschunken eiligst die Netze eingezogen, und die Boote verwandelten sich in Minutenschnelle zu angriffslustigen Seeräuberfahrzeugen.
Europäische Matrosen waren es, die den Namen der kleinen Siedlung Heung Kong irrtümlich auf das ganze Gebiet der dem Festland vorgelagerten Insel anwendeten und ihn in ihre Seekarten eintrugen. So wurde er später von den englischen Kolonisatoren übernommen, und diese nannten den einstigen Ankerplatz der Piratendschunken ziemlich willkürlich Aberdeen.
Heute ist Aberdeen einer der malerischsten Plätze ganz Hongkongs. Längst sind die Piraten vergessen. Aber die etwa hunderttausend Chinesen, die auf unzähligen kleinen und großen Dschunken, auf Sampans und Lastbooten in der Bucht von Aberdeen leben, sind Nachfahren der legendären Seeräuber. Es sind arme Leute, die ärmsten, die es neben den Hafenkulis und Rikschafahrern in der ganzen Kolonie gibt. Ihre Boote sind ihr einziger Besitz. Sie schlafen und essen auf ihnen, ihre Kinder wachsen auf den schwankenden Planken auf. Sie können sich keine Wohnungen an Land leisten. Die Grundbesitzer verlangen für jeden Quadratmeter Boden in der Kolonie astronomische Preise. Außerdem muß man an Land Steuern zahlen, auf dem Wasser ist man davon befreit.
Unzählige Touristen wandern heute nach Aberdeen, um sich an der »pittoresken Szenerie« zu erfreuen. Sie speisen auf den beiden großen Hotelbooten, der »Yu Lee Tai« und der »Tai Pak«, fotografieren die Kinder der Bootsleute und lassen sich von jungen Hoklo-Frauen auf kleinen Booten zwischen den vielen schwimmenden Behausungen herumrudern. Hier - so glauben sie
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