Die weissen Feuer von Hongkong
- können sie mit Farbfilmkamera und Filmapparat ein Stück »echt asiatischer Romantik« einfangen. Sie ergötzen sich an jeder Frau, die ein Kind stillt, an jedem Kochfeuer, das auf einem Boot qualmt, an jedem alten, bärtigen Fischer und jedem malerisch zerschlissenen Dschunkensegel. Nur selten kommt ihnen zum Bewußtsein, daß sie in Aberdeen die zerlumpte, stinkende, mit ‚Geschwüren bedeckte Schande der Kolonialmacht England erleben. Jener Macht, die Handelshäuser und Banken im Zentrum der Insel baute, Paläste an der Repulse Bay und Luxusvillen am Peak und die die wahren Eigentümer des Landes, die alteingesessene Bevölkerung, auf den Status von Bettlern und Gelegenheitsarbeitern erniedrigte. Nichts davon findet sich in den bunten Prospekten der Reisebüros. Aberdeen ist der »pittoreske I-Punkt Hongkongs«, eine aus Armut und Elend bestehende »Sehenswürdigkeit« für weltreisende Oberlehrer, Gouvernanten, Fabrikantengattinnen, hurende Mannequins und wer sonst noch auf Ferienschecks von Cook‘s oder Everett‘s Travel Agency in der Kolonie herumreist.
Judith Huang war mit dem Jungen bis Aberdeen gefahren. Sie waren auf die Hügel von Aplichau geklettert, hier konnten sie die Bucht, den Fischerhafen und das perlmuttglänzende Meer weit überblicken. In ihrer Nähe hatte sich ein Maler niedergelassen, ein junger Europäer mit einem lächerlich gestutzten Kinnbart. Er hockte vor seiner Staffelei und bedeckte ein Stück Leinwand mit grellen Farbklecksen. Bert hatte sich das Bild im Vorübergehen angesehen. Als er jetzt neben Judith auf einem sonnenwarmen Felsbrocken am Rande eines Abhanges saß, sagte er nachdenklich: »Es wird mir bestimmt leid tun, wenn wir für immer weggehen. Werden wir nie mehr hierher zurückkommen?«
Sie schaute auf die Bucht hinab, auf die Dschunken und Sampans, die spielenden Kinder, den Rauch der Kochstellen, und es war ihr, als läge da unten ganz Asien. »Nein«, sagte sie leise, »es ist sehr unwahrscheinlich, daß wir noch einmal nach Hongkong kommen. Aber Deutschland wird dir auch gefallen. Auf andere Art. Aber trotzdem ...«
»Ist es schön da?« fragte der Junge. Sie biß sich auf die Lippe. Es war schwer, etwas zu loben, was man selbst nicht kannte.
«Ich weiß es nicht, Bert«, antwortete sie.
»Du warst nie dort?« Er sah sie an. Vielleicht war es ihm deshalb nicht schwergefallen, zu dieser jungen, freundlichen Frau Zutrauen zu finden, weil er seine eigene Mutter nie gekannt hatte. Sein Vater hatte ihm einmal gesagt, sie würde seine Frau werden. Also war sie das, was für andere Kinder in seinem Alter die Mutter ist. Nun, nachdem er sich mit ihr angefreundet hatte, machte ihn dieser Gedanke sogar froh. Aber Deutschland? Was war das für ein Land? Er kannte es vom Globus. Ein ziemlich kleiner Fleck in Europa, ein paar Flüsse, ein paar Gebirge - das war alles.
»Wir werden uns beide erst an Deutschland gewöhnen müssen«, sagte Judith. »Aber deinem Vater wird es auch nicht leichtfallen. Er ist lange von dort fort gewesen.«
»Dann werden wir alle drei unseren Ärger haben«, stellte Bert altklug fest. Schließlich lachte er und meinte: »Eigentlich stelle ich es mir ganz spannend vor, nach Europa zu gehen. Da gibt es einen Winter, in dem Wasser gefroren vom Himmel fällt. Paps hat mir erzählt, man kann auf langen Brettern darüberrutschen. Selbst über Gras und Erde kann man so rutschen, Hauptsache, es liegt gefrorenes Wasser darauf:« Er stockte und fügte etwas unsicher hinzu: »Aber es soll sehr kalt sein. So kalt, wie es hier nie ist. Ob wir das wohl aushalten?«
Sie lächelte. »Wir werden uns warm anziehen.«
Dieser Gedanke behagte Bert nicht sonderlich. Aber in ihm war die Neugier erwacht. Das Land sehen, aus dem der Vater gekommen ist, das war schon ein Abenteuer. Er konnte sich keine Vorstellung davon machen, und gerade deshalb erfüllte ihn die Aussicht, dorthin zu kommen, mit einer Art Unruhe. Wie es schien, würde die Reise sehr bald beginnen. Er überlegte. »Das mit dem gefrorenen Regen verstehe ich nicht. Aber das ist nicht so schlimm. Viel schlimmer ist, daß wir heimlich von hier weggehen sollen und daß ich keinem meiner Freunde etwas davon verraten darf.«
»Dein Vater wird dir das alles noch besser erklären«, redete sie ihm zu. »Seinetwegen müssen wir heimlich gehen.«
»Aber warum?«
»Er wird es dir genau sagen. Ich weiß nur, daß man ihn zwingen will, etwas zu tun, was er keinesfalls tun will. Hat er dir erzählt, wie deine
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