Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
einer, dem gelegentlich die Hand ausrutschte. »Gab es in irgendeiner der anderen Aussagen einen Hinweis darauf, dass Toni manchmal komische Verletzungen hatte? Hat sie vielleicht hin und wieder beim Sportunterricht nicht mitgemacht?«
Wiechert schüttelte den Kopf und sah zu Köster hinüber, der bestätigend nickte. Er antwortete an ihrer Stelle. »Nicht den klitzekleinsten Hinweis. Alles war normal. Ist doch möglich, dass das mit den Fingern tatsächlich ein dummer Unfall war.«
Lydia lenkte ein, doch sie war nicht zufrieden. Sie dachte an Nicole Bruckmanns Nervosität, als es um die Auseinandersetzungen mit ihrer Tochter ging. Daran, wie schnell Michael Bruckmann das Thema gewechselt hatte. Vielleicht war der Vater tatsächlich nicht gewalttätig gewesen. Aber was war mit der Mutter?
Chris beschleunigte seine Schritte. Er war zwanzig Minuten zu spät. Schon von weitem sah er Sonja vor der Bar stehen, verfroren trippelte sie von einem Bein auf das andere.
»Tut mir wahnsinnig leid«, rief er außer Atem. »Ich bin einfach nicht früher weggekommen.«
»Macht nichts. Du hast ja gesagt, dass es knapp wird.« Sie lächelte ihn an. »Hallo. Schön, dich zu sehen.«
»Hallo.« Er beugte sich zu ihr hinunter und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Am liebsten wäre er so verharrt; seine Hände auf ihren Oberarmen, seine Lippen an ihrer weichen, duftenden Haut.
Sie setzten sich in eine ruhige Ecke und bestellten Weißwein.
»Hast du bis jetzt gearbeitet?«, wollte Sonja wissen.
Chris nickte. »Einige von uns sind sogar noch da. Und morgen früh um sieben geht es wieder los. Bei einem Mordfall zählt jede Stunde.«
»Es ist also Mord?« Interessiert beugte Sonja sich vor.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht über meine Arbeit sprechen darf. Woher weißt du überhaupt, in welcher Sache wir ermitteln?«
»Ich bitte dich, Chris, das mit dem Mädchen stand in allen Zeitungen. Darum geht es doch, oder?« Sie sah ihn an. Keine Sensationsgier lag in ihrem Blick, nur aufrichtiges Interesse.
Er nickte wortlos.
Sie nahm seine Hand. »Wir müssen nicht darüber reden. Aber falls du etwas loswerden möchtest, dann verspreche ich, es sofort wieder zu vergessen. Du hast ja keine Ahnung, wie furchtbar vergesslich ich sein kann.«
Er lachte auf und nippte an seinem Wein. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. »Fälle mit Kindern sind immer besonders schlimm. Das steckt keiner einfach so weg.«
»Ich weiß.«
»Es sieht im Augenblick so aus, als wäre der Täter kein Fremder«, fuhr er fort. »Wir haben den Vater im Verdacht. Ist das nicht unbegreiflich? Welcher Vater tut seinem Kind so etwas an?« Er starrte in sein Weinglas und kämpfte gegen die Flut von Gefühlen, die ihn zu überrollen drohte.
Sonja strich sanft über seine Finger. »Das habe ich mir schon gedacht.«
Chris runzelte die Stirn. »Wieso?«
»Ich habe in meinem Beruf auch viel mit Kindern zu tun. Mit Wunschkindern, mit nicht gewollten und mit solchen, die im Leben ihrer Eltern irgendein Defizit ausgleichen sollen.« Sie seufzte. »Ich liebe meinen Beruf, aber manchmal sitze ich abends zu Hause und heule.«
Chris drückte ihre Hand. »Du liebst Kinder sehr, nicht wahr?«
Sie lächelte. »Ja. Und ich freue mich schon wahnsinnig auf meinen dritten Neffen. Tara hat bereits Senkwehen. Sie ist zwar erst in der sechsunddreißigsten Woche, aber vielleicht kommt der Kleine noch vor Weihnachten. Das wäre schön!«
»Ist es nicht gefährlich, wenn das Kind zu früh kommt?«
Sie legte den Kopf schief. »Natürlich ist es besser, wenn das Kind länger im Mutterleib bleibt, aber zwei oder drei Wochen früher sind nicht wirklich schlimm.« Sie verzog das Gesicht. »Ich sollte mich schämen, als Gynäkologin so etwas zu sagen. Ich bin einfach zu ungeduldig!« Plötzlich wurde sie ernst und senkte den Blick. »Es tut mir leid. Wir sollten über etwas anderes reden. Manchmal bin ich so schrecklich gedankenlos.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das bist du nicht. Ich höre dir gern zu, das weißt du.«
Sie sprachen über alte Zeiten, über Lebensträume und über Chris’ Harley, auf der Sonja unbedingt eine Runde mit ihm fahren wollte.
Schließlich konnte Chris das Gähnen nicht länger unterdrücken. Es war halb zwölf, er war seit siebzehn Stunden auf den Beinen.
»Du kannst gern bei mir übernachten, wenn du möchtest«, sagte Sonja. »Auf der Couch im Wohnzimmer, meine ich. Dann musst du nicht nach Köln fahren.«
Ihre Worte lösten eine
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