Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
ich gesehen, dass er gar nichts anhatte. Bäh.« Sie schüttelte sich angewidert.
»Konntest du sein Gesicht sehen?«
»Klar.«
»Es war doch noch dunkel.«
»So dunkel auch wieder nicht. Außerdem war sein Gesicht direkt über mir. Er hatte kurze Haare und eine dicke Brille.«
»Er trug eine Brille?« Keine der Zeuginnen hatte je eine Brille erwähnt.
»Ja, eine von denen, die fast nur aus Gläsern bestehen, mit einem ganz dünnen Rand. Und sie war superdick. Seine Augen waren riesig.«
Sie ließen einen Kollegen kommen, der gemeinsam mit Katja am Laptop ein Phantombild anfertigte. Dann fuhren sie mit ihr zum Tatort, wo Spunte und sein Team vergeblich nach Spuren suchten. Die zahlreichen Fußabdrücke auf dem viel genutzten Spazierweg waren unmöglich alle zuzuordnen, hinter keinem der Bäume links und rechts fand sich etwas anderes als getrocknetes Laub, Zweige und Moos.
Chris stand fröstelnd da und vermied es, Lydia anzusehen. Er wusste, dass sie das Gleiche dachte wie er. Jeder Fall schien sie in diesen Wald zu führen. Es war wie verhext. Dabei war der Eller Forst nicht einmal ein richtiger Wald, sondern ein winziges Fleckchen Grün, eingerahmt von Bahnlinie und Hauptverkehrsstraßen. Im Grunde war er nicht mehr als ein überdimensionales Hundeklo.
Auf dem Weg ins Präsidium schwiegen Lydia und Chris, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Als Chris sich über das müde Gesicht fuhr, fiel ihm der Umschlag in seiner Tasche wieder ein, an den er in den letzten zwei Stunden nicht gedacht hatte. Er hatte ihn noch nicht geöffnet. Eigentlich sollte er ihn ungelesen in den Müll werfen. Alles andere war unnötige Quälerei. Doch er wusste, dass er das nicht fertigbringen würde. Kraftlos ließ er den Kopf gegen das Seitenfenster fallen und schloss die Augen. Er spürte Lydias Blick. Es war ihm egal, was sie dachte. Hauptsache, sie hielt die Klappe.
»Warum sollte es denn kein Zufall sein?« Meier schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Das Leben ist voller Zufälle. Ich verstehe nicht, wieso ihr einen Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen konstruiert, die eindeutig nichts miteinander zu tun haben.«
»Wie bitte willst du das sonst erklären?«, fragte Ruth Wiechert. »Ein Mädchen wird überfallen und stirbt. Dringend verdächtig ist ein unbekannter Exhibitionist. Drei Tage später wird ein Mädchen im gleichen Alter überfallen, von eben jenem Exhibitionisten. Das ist doch sonnenklar.«
»Von einem Exhibitionisten, der bisher nie gewalttätig wurde«, fuhr Meier sie an.
»Schon mal was von Eskalation gehört?«
»Also, wenn ich auch mal was sagen darf, ich finde es ebenfalls unwahrscheinlich, dass dieser Unbekannte in beiden Fällen der Täter ist.« Heinz Schröder blickte in die Runde. »Nehmen wir mal an, dass er Antonia Bruckmann getötet hat. Soweit wir wissen, wäre er damit zum ersten Mal handgreiflich geworden. Vermutlich war der Sturz auf der Treppe ein Unfall. Aber egal ob Unfall oder nicht, Ruth, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass er gleich drei Tage später wieder zuschlagen würde! Der Kerl steht total unter Schock. Er ist doch kein eiskalter Mörder.«
»Vielleicht hat er es genau deshalb so schnell wieder getan«, gab Ruth trotzig zurück. »Weil bei Antonia etwas schiefgegangen ist und er es diesmal richtig machen wollte.«
»Das ist doch absoluter Quatsch«, sagte Schmiedel heftig.
Lydia, die der Diskussion schweigend gelauscht hatte, beschloss einzugreifen, bevor die Männer sich alle auf Ruth Wiechert einschossen.
»Halt!«, rief sie. »Solange wir nichts Genaues wissen, ist keine Theorie Quatsch. Jeder kann hier sagen, was er meint. Ist das klar?«
Schmiedel nickte verlegen, Meier verschränkte trotzig die Arme. Lydia stöhnte innerlich. Nachdem der erste Schock über den Vorfall im Wald sich gelegt hatte, war ihr klar geworden, dass der Verdacht gegen Bruckmann damit keineswegs zerstreut war. Im Gegenteil, je mehr sie darüber nachdachte, desto eher neigte sie dazu, Reinhold Meier zuzustimmen. Der Mann, der Katja Kramer aufgelauert hatte, war mit großer Wahrscheinlichkeit nicht derselbe, der Toni Bruckmann getötet hatte. Drei Tage waren ein verdammt kurzer Zeitraum, selbst wenn man Ruth Wiecherts Argumentation folgte und eine Eskalation oder Frustrationsdruck voraussetzte. Seit einer halben Stunde redeten sie sich jetzt die Köpfe heiß. Doch obwohl Lydia das Gefühl bekam, dass sie sich im Kreis drehten, fand sie diesen Austausch wichtig. Er klärte die Gedanken
Weitere Kostenlose Bücher