Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
war gerötet, das dunkelblonde Haar zerzaust.
»Es geht mir gut«, antwortete sie leichthin. Wenn sie unter Schock stand, ließ sie sich nichts anmerken. Vielleicht setzte die Reaktion auch erst später ein, wenn der Adrenalinspiegel sank.
»Hat der Mann dir wehgetan?«
Katja verzog das Gesicht. »Ich bin kein kleines Kind mehr. Sie können richtig mit mir reden. Er hat mich nicht vergewaltigt, falls Sie das meinen. Er hat sich auf mich gestürzt, aber ich habe ihn getreten und geschlagen, da ist er weggerannt. Ich habe nicht mal einen Kratzer. Nur die Jacke ist hin.«
Chris sah sie neugierig an. Sie war kein Kind mehr, doch auch noch längst nicht erwachsen. Er nahm an, dass ihre Abgebrühtheit mit dem Schreck zu tun haben musste, dass ihr eine schlimme Zeit bevorstand, sobald ihr bewusst wurde, was geschehen war. Er musste versuchen, diese Verzögerung zu nutzen, um so viel wie möglich von ihr zu erfahren, und kam sich mies dabei vor.
»Sehen Sie mich nicht so komisch an«, stieß Katja hervor. »Der Polizist am Telefon hat gesagt, dass ich genauso bleiben soll, wie ich bin. Wegen der Spuren.«
»Oh, gut.« Chris war erleichtert, dass sie seinen penetranten Blick auf ihre äußere Erscheinung zurückführte. »Wäre es okay für dich, wenn meine Kollegin dich eben anschaut?«
»Natürlich. Dafür sind Sie doch gekommen, oder?«
Während die Beamtin von der Kriminaltechnik mit Katja im Nebenraum verschwand, in der Hoffnung, fremde Haare oder Fasern an ihrem Körper zu finden, sprachen Chris und Lydia leise mit den Eltern, die ihnen jedoch nicht viel sagen konnten. Schließlich war die Kriminaltechnikerin fertig. Die grüne Jacke war in einer Plastiktüte verschwunden, ebenso wie die Hose und der Pullover. Katja trug jetzt einen Jogginganzug.
»Irgendwas gefunden?«, fragte Lydia.
Spunte, der ein paar Worte mit seiner Mitarbeiterin gewechselt hatte, zuckte mit den Schultern. »Ein paar Haare, die ganz vielversprechend aussehen. Schauen wir mal.«
Lydia sah die Eltern an. »Es wäre gut, wenn Ihre Tochter auch in der Rechtsmedizin untersucht würde. Falls sie Verletzungen hat, sollten sie von einem Fachmann protokolliert werden.«
Die Mutter schlug entsetzt die Hand vor den Mund. »Du lieber Himmel! Rechtsmedizin? Ist das wirklich nötig?«
»Es wäre besser.«
»Aber ich habe keine Verletzungen. Das sagte ich doch schon«, protestierte Katja.
»Gut. Das klären wir später.« Chris setzte sich zu ihr aufs Sofa. »Könntest du uns bitte jetzt erzählen, was passiert ist?«
»Wo soll ich denn anfangen?« Sie blickte fragend von einem zum anderen.
Chris half ihr auf die Sprünge. »Du bist mit deinem Fahrrad durch den Wald gefahren. Kamst du von zu Hause?«
»Nicht mit meinem Fahrrad, mit dem von meiner Mutter. Meins hat einen Platten. Ich wollte eine Freundin besuchen. Durch den Wald ist es kürzer.«
»Hattest du denn heute keine Schule?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Die Lehrer sind auf einer Fortbildung«, erklärte die Mutter.
Katja drehte eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger und steckte beides in den Mund.
»Du warst also auf dem Weg zu deiner Freundin. War es noch dunkel im Wald?«
Sie pustete die Strähne aus dem Mund und nickte. »Ja. Aber es ist Licht am Fahrrad.«
»Was ist dann passiert?«
»Der Mann stand plötzlich vor mir auf dem Weg.«
»Du hast ihn nicht kommen sehen?«
»Er muss hinter einem Baum gestanden haben.« Wieder drehte sie die Strähne um den Finger. »Er kam von der Seite und stand einfach da. Ich habe einen Riesenschreck gekriegt und bin vom Rad gefallen.«
»Und dann?«
»Der Mann rannte zu mir und packte mich. Er sagte irgendwas, aber ich habe nicht hingehört. Ich habe einfach nur getreten und geschlagen. Und gespuckt.«
»Gespuckt?«
»Ja. Ich wollte, dass er abhaut. Das hat er auch getan. Er ist aufgestanden, hat irgendwas gemurmelt, und dann ist er weggerannt. Ich bin aufs Fahrrad und so schnell ich konnte zurück nach Hause.«
»Konntest du erkennen, wie der Mann aussah?«
»Na ja, es war dieser Exi… dieser – wie heißt das noch?«
»Der Exhibitionist? Wie kommst du darauf?«
»Meine Schwester hat mir erklärt, was das für einer ist. Er zieht sich vor anderen Leuten aus.«
»Und du meinst, das war der Mann?«
»Er hatte nichts an unter seinem Mantel. Er hat ihn aufgemacht – so.« Sie imitierte mit den Händen die Bewegung eines Menschen, der seinen Mantel aufhält, wozu sie die Haarsträhne vorübergehend loslassen musste. »Und da habe
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