Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Zweimal wäre er auf dem Weg hierher beinahe umgekehrt. Verräter, hatte er sich geschimpft. Was tust du da eigentlich? Ist das der Dank dafür, dass deine Frau in fast zwei Jahrzehnten Ehe immer bedingungslos zu dir gestanden hat? Dann wieder hatte er sich gesagt, dass es keine andere Lösung gab, dass es auch für Melanie besser so war. Dennoch war es ihm nicht gelungen, seine innere Stimme vollkommen zum Schweigen zu bringen.
Ihm war sofort klar, mit welcher Frau er verabredet war. Sie saß an einem Tisch in der hinteren Ecke, ein Glas Wasser vor sich, und blätterte in einem Stapel Papiere. Ihr rot gefärbtes Haar war kurz geschnitten und verlieh ihr etwas Energisches. Letzte Möglichkeit, es sich anders zu überlegen. Doch da hob sie ihren Kopf und erblickte ihn. Schweren Herzens ging er auf sie zu.
Sie hielt sich nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln auf. Kaum hatten sie sich die Hände geschüttelt, da war sie auch schon beim Thema. »Ihre Frau braucht Hilfe, Herr Schwarzbach. Das wissen Sie doch sicherlich?«
Er nickte. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es so ist, wie ich vermute. Vielleicht täusche ich mich ja.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nach Ihren Schilderungen hege ich keinerlei Zweifel. Leider.« Das letzte Wort kam nicht wirklich überzeugend über ihre Lippen. Im Gegenteil, er hatte den Eindruck, dass sie sich innerlich angriffslustig die Hände rieb. »Verlassen Sie sich auf meine Erfahrung. Ich weiß, wovon ich rede. Außerdem haben Sie mir doch erzählt, der Arzt im Krankenhaus habe Sie bereits darauf angesprochen.«
»Das stimmt. Von ihm habe ich auch den Namen Ihrer Organisation.«
»Na also.« Die Frau lächelte, als sei er ein kleiner Junge, den es aufzumuntern galt.
»Was soll ich jetzt tun?« Schwarzbach griff nach dem Wasser, das die Kellnerin ihm hingestellt hatte. Eigentlich hätte er lieber ein Bier getrunken, aber angesichts der Getränkewahl seiner Gesprächspartnerin kam ihm das unpassend vor.
»Nicht ›ich‹«, verbesserte ihn die Rothaarige. Sie tätschelte seine Hand. »Wir. Wir stehen das zusammen durch.« Sie blätterte in ihren Unterlagen. »Zunächst einmal muss Ihre Tochter in Sicherheit gebracht werden. Das hat absolute Priorität. Ich könnte da für morgen früh etwas organisieren.«
»In Sicherheit gebracht werden?« Schwarzbach stellte sein Wasserglas ab. Ihm war plötzlich schwindelig. »Wie meinen Sie das?«
»Na, sie muss Ihrer Frau entzogen werden. Sie darf keinen Zugriff mehr auf das arme Kind haben. Leonie ist in ernster Gefahr.« Seine Gesprächspartnerin musterte ihn streng. »Denken Sie an Ihre erste Tochter.«
»Svenja ist an einem Hirntumor gestorben«, sagte Olaf Schwarzbach leise, aber mit fester Stimme.
Die Frau zog die Augenbrauen hoch. »Wie Sie meinen. Ich kann nur helfen, wenn Sie bedingungslos kooperieren. Ihre Frau ist psychisch schwer gestört. Sie wird Ihre Tochter so lange krank machen, bis sie stirbt. Sie wissen das, Herr Schwarzbach. Lieben Sie Ihre Tochter?«
»Ja, natürlich.« Der Schwindel ließ nicht nach. In Schwarzbachs Kopf rauschte es, er hatte das Gefühl, von einer gewaltigen Lawine mitgerissen zu werden, die er selbst losgetreten hatte und die ihn nun gnadenlos unter sich begrub.
»Dann also morgen früh«, sagte die Frau geschäftsmäßig. »Neun Uhr. Leonie kommt in eine Pflegefamilie. Wir klären das mit den Behörden. Unsere Organisation hat einen guten Draht zum Jugendamt. Das geht alles ganz glatt über die Bühne. Vertrauen Sie mir.«
Sie raffte ihre Unterlagen zusammen. »Kopf hoch, Herr Schwarzbach. Das wird schon.«
»Aber …« Ihm schwirrte der Kopf. Dieses Gespräch war vollkommen anders verlaufen, als er erwartet hatte.
»Sie übernehmen das hier?«, fragte die Frau und deutete auf die beiden Wassergläser. Sie wandte sich ab und hastete aus dem Lokal, ohne seine Zustimmung abzuwarten.
Chris Salomon atmete die schneidend kalte Nachtluft ein. Während der endlos erscheinenden Zugfahrt nach Hause hatte er versucht, nicht an das zu denken, was zwischen ihm und Lydia passiert war. Vergeblich. Er war wütend, verachtete sich selbst für seine Schwäche. Wie hatte er sich nur so vergessen können? Warum, zum Teufel, hatte er ausgerechnet bei Lydia Louis Trost gesucht? Weil Sonja dafür zu schade war, hatte er sich gesagt. Weil er sie nicht benutzen wollte. Wenn er mit Sonja schlief, dann, weil er etwas für sie empfand, und nicht weil er nach Sex und Vergessen gierte. Dieses Wissen würde es
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