Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
und half den übernächtigten Ermittlern, ein wenig Dampf abzulassen.
Sie warf einen Blick zu Salomon, der noch kein einziges Wort gesagt hatte. Er drängte sich zwar bei diesen Besprechungen nie in den Vordergrund, aber dass er so still war, war ungewöhnlich. Seit heute Morgen, als er unter einem fadenscheinigen Vorwand zu spät gekommen war, hatte sie den Verdacht, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht war ja diese Sonja dafür verantwortlich, die alte Schulfreundin, mit der Salomon offenbar so etwas wie eine Beinahe-Beziehung führte. Nicht dass sie sich dafür interessierte, was er in seiner Freizeit trieb, aber wenn es Auswirkungen auf seine Arbeit hatte, konnte sie nicht die Augen davor verschließen. Einen Partner mit Liebeskummer konnte sie nicht gebrauchen.
Ingo Wirtz räusperte sich. »Was spricht eigentlich dagegen, dass der Kerl dem Mädchen im Wald nur aufhelfen wollte?«
»Wie bitte?«, stieß Ruth Wiechert hervor.
»Ich meine«, sagte Wirtz, »wenn er wirklich ein stinknormaler harmloser Exhibitionist ist, dann wollte er ihr vielleicht wirklich nur sein Ding zeigen. Als sie hinfiel, hat er nachgeschaut, ob sie sich verletzt hat. Wäre doch möglich, oder?«
»Ein Perverser mit Heiligenschein, ich glaube, ich muss kotzen.«
»Wiechert!«, fuhr Lydia sie an. »Die Spielregeln gelten für alle.«
»Also ich finde, Ingos Idee hat was«, sagte Gerd Köster. »Außerdem ist für mich beim Mord an Antonia Bruckmann immer noch der Vater der Verdächtige Nummer eins. In dem Fall hätte Reinhold recht, und die beiden Vorfälle haben nichts miteinander zu tun.«
»Mir ist da noch ein ganz anderer Gedanke gekommen«, sagte Salomon plötzlich.
Lydia hob überrascht den Kopf. Willkommen bei der Besprechung, dachte sie.
»Ich überlege die ganze Zeit, ob wir es nicht schon im Fall Toni mit zwei verschiedenen Tätern zu tun haben.«
»Genau.« Meier schwang seine Faust durch die Luft. »Die Idee hatte ich auch schon.«
»Du meinst, einer hat sie die Treppe hinuntergestoßen, und ein anderer hat sie, als sie schon tot war, mit dem Besenstiel traktiert?«, fragte Wirtz. »Wozu?«
»Um die Tat der ersten Person zu vertuschen. Stell dir vor, der Vater hat eine Auseinandersetzung mit seiner Tochter. Sie fällt die Treppe hinunter. Damit es nicht nach einer innerfamiliären Auseinandersetzung aussieht, täuscht die Mutter ein Sexualdelikt vor.«
»Oder umgekehrt«, ergänzte Lydia, der die Idee einleuchtete. »Mutter und Tochter haben Zoff, das Mädchen stürzt, und der Vater täuscht das Sexualdelikt vor, um seine Frau vor den Konsequenzen zu bewahren. Bruckmann hatte auch als Erster die Idee mit dem Exhibitionisten. Als wir die beiden am nächsten Tag befragt haben, ist er nicht von der Seite seiner Frau gewichen. Es wirkte tatsächlich so, als wolle er sie vor irgendetwas beschützen. Ständig hat er betont, wie krank sie ist und dass er sie nicht auch noch verlieren will.«
Salomon nickte. »Nicole Bruckmann hat ganz merkwürdig reagiert, als wir sie fragten, ob sie gut mit ihrer Tochter zurechtgekommen sei. Ich habe die ganze Zeit nach einem Wort gesucht, um zu beschreiben, wie ich ihre Reaktion empfunden habe. Jetzt ist es mir eingefallen: schuldbewusst.«
»Also kein vorsätzliches Verbrechen, sondern eine Familientragödie«, fasste Köster zusammen.
Die Stille, die seinen Worten folgte, wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Eine Kollegin trat ein und reichte Lydia ein Blatt Papier. Rasch überflog sie den Text und stutzte. Dreimal musste sie die Worte lesen, bis sie sicher war, dass sie richtig verstanden hatte.
»Leute«, sagte sie schließlich. »Ihr habt doch so viel Spaß am Spekulieren. Ich habe hier etwas, worüber ihr euch den Kopf zerbrechen könnt: Das ist vom LKA . Die Fremd- DNA , die an der Leiche gefunden wurde, gehörte zu drei verschiedenen Personen. Alle drei sind nicht mit Antonia Bruckmann verwandt.« Lydia machte eine Pause und blickte in die ungläubigen Gesichter ihrer Kollegen. »Aber es kommt noch besser«, fuhr sie fort. »Die Hautschuppen unter ihren Fingernägeln waren ihre eigenen. Sie hat sich selbst das Gesicht zerkratzt.«
Es war bereits dunkel, als Lydia in ihr Büro zurückkehrte. Sie hatte noch mit Weynrath, ihrem Chef, gesprochen und ihm die neuesten Entwicklungen mitgeteilt. Das Gespräch war wenig erfreulich gewesen. Weynrath bevorzugte schnelle, einfache Lösungen, und danach sah es in diesem Fall nicht aus. Er hatte in gewohnter Manier
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