Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
traute er seinen Nerven nicht. Auf der Autobahn wäre er eine Gefahr für sich und andere. Für die S-Bahn war er natürlich viel zu spät dran. Aus dem Zug rief er Lydia an und erzählte ihr etwas von einer defekten Benzinleitung.
Als er im zweiten Stock ankam, warf er einen schnellen Blick auf die Uhr. Viertel nach acht. Die erste Besprechung hatte er verpasst. Im Laufschritt hastete er zu dem Büro, das er sich mit Lydia teilte, und versuchte, nicht an den Brief zu denken, der ein Loch in seine Jacke brannte.
»Morgen, Louis. Tut mir echt leid.« Er versuchte, lässig zu klingen, aber ihr Blick verriet ihm, dass er aus gutem Grund nie daran gedacht hatte, Schauspieler zu werden.
»Wer meldet denn auch ein Motorrad im Winter an«, sagte sie statt einer Begrüßung. »Wie wäre es stattdessen mit einem Auto?«
»Wird nicht wieder vorkommen.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Und? Irgendwas, das ich wissen sollte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde gleich noch mal beim LKA anrufen und denen Beine machen.« Sie schob die Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch mit einer ungeduldigen Handbewegung zur Seite. »Ich hasse dieses Zeug!«, stieß sie ärgerlich hervor. »Nutzloser Papierberg.«
Lydia lehnte sich zurück und musterte ihn. »Du siehst beschissen aus, Salomon.«
»Danke, du auch.«
Sie grinste. Dann schien ihr etwas einzufallen. »Ach, eine Kleinigkeit wäre da noch. Ich habe gestern Abend den Vater angerufen, weil mir die Idee kam, Tonis Handy könnte vielleicht hilfreich sein.«
»Ach, Mist! Daran haben wir ja gar nicht gedacht. Und?«
»Fehlanzeige. Sie hat das Ding vor ein paar Wochen verloren und hatte noch kein neues. Einen Computer hat sie übrigens auch nicht besessen.«
Ihr Telefon klingelte, bevor Chris antworten konnte. Lydia hob ab. Während sie zuhörte, wurde sie blass.
»Geben Sie mir bitte die Adresse«, sagte sie schließlich knapp und notierte etwas auf einen Zettel. »Ach, und rufen Sie Spuntenmayer von der Kriminaltechnik an, ich erwarte ihn dort.« Sie legte auf. »Verdammte Scheiße.«
»Was ist los, Louis?« Angst schnürte ihm die Kehle zu. Seine Fantasie lief bereits auf Hochtouren.
»Jemand hat ein elfjähriges Mädchen im Eller Forst überfallen. Die Täterbeschreibung passt auf unseren Exhibitionisten.«
»Großer Gott, ist sie verletzt?«
»Es scheint ihr ganz gut zu gehen. Sie ist zu Hause. Eine Streife ist vor Ort.« Lydia stand auf. »So viel zu unserer tollen Ermittlungsarbeit.«
Zwanzig Minuten später hielten sie vor einem Haus, das nur zwei Querstraßen von dem der Familie Bruckmann entfernt war. Es sah ähnlich aus, allerdings war die Tür grün gestrichen, und im Vorgarten stand ein Vogelhaus. Spunte und eine Kollegin trafen gleichzeitig ein. Ein Streifenpolizist öffnete ihnen die Tür und führte sie ins Wohnzimmer, wo eine uniformierte Beamtin neben einem Mädchen auf dem Sofa saß. Ein Mann und eine Frau, vermutlich die Eltern, standen beim Fenster, er hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt. Genau wie Bruckmann, durchzuckte es Chris.
Er ging auf die beiden zu. »Herr und Frau Kramer, nehme ich an? Ich bin Chris Salomon. Das ist meine Kollegin Frau Louis.« Er schüttelte den beiden die Hand. Nachdem er einen kurzen Blick mit Lydia getauscht hatte, trat er an das Sofa. Sie hatten im Auto nicht viel geredet, der Schock über ihren kolossalen Irrtum saß zu tief, doch auch ohne Absprache war klar, dass er diesmal das Mädchen befragen würde. Er war zwar ein Mann, doch in solchen Situationen war er sensibler als seine Partnerin. Lydia neigte gelegentlich dazu, Zeugen zu verschrecken.
Eigentlich müssten sie auf die Psychologin warten und dann jede Frage genau abwägen. Sonst hieß es später beim Prozess, sie hätten die Zeugin manipuliert. Bei Kindern konnte man da nicht vorsichtig genug sein. Doch wenn Katjas Angreifer Antonia Bruckmanns Mörder war, der bereits drei Tage nach dem ersten Verbrechen wieder zugeschlagen hatte, lagen die Prioritäten anders. Dann mussten sie den Kerl so schnell wie möglich aus dem Verkehr ziehen.
»Du musst Katja sein. Ich bin Chris. Wie geht es dir?« Chris gab auch ihr die Hand. Selbst im Sitzen sah man, dass Katja mit vermutlich über einem Meter fünfzig groß für ihr Alter und im Unterschied zu Antonia Bruckmann bereits in der Pubertät war. Sie saß kerzengerade da, in ihrer dicken grünen Winterjacke, die mit Schlamm beschmutzt war und einen kleinen Riss an der Vorderseite hatte. Ihr Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher