Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
herumgepoltert, Lydia vorgeworfen, dass sie zu viele Ideen habe und sich lieber an die Fakten halten solle. Sie hatte seinen Ausbruch schweigend über sich ergehen lassen, weil sie aus Erfahrung wusste, dass jeder Widerspruch Weynraths Wortschwall nur verlängerte. Danach hatte sie in der Kantine einen Kaffee getrunken, um für eine Weile allein zu sein.
Salomon saß im unbeleuchteten Büro und starrte auf seine Oberschenkel. Schweigend setzte sie sich ihm gegenüber und schaltete die Lampe auf ihrem Schreibtisch an. Erschrocken bemerkte sie, dass er gerötete Augen hatte. Also doch Liebeskummer. Nicht zu fassen. Mühsam unterdrückte sie die Wut, die in ihr aufstieg.
»Fahr nach Hause«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. »Es ist gleich acht. Schlaf dich aus.«
Er schob ihr wortlos ein Blatt Papier herüber. »Das war heute Morgen in der Post.«
Nein, dachte Lydia, da ziehst du mich nicht mit rein. Deine Frauengeschichten regelst du bitte allein. Sie ignorierte das Blatt und wiederholte ihre Aufforderung. »Fahr nach Hause.«
Chris sah auf das Blatt, als habe er sie nicht gehört. Sie folgte seinem Blick und registrierte eine Kinderhandschrift. Zögernd griff sie danach und begann zu lesen.
»Liebe Anna,
sechs Jahre ist es her, dass wir zusammen die Spielgruppe besucht haben. Wie viel ist inzwischen passiert! Wir gehen zur Schule, können lesen und schreiben. Ich würde dich gern wiedersehen, deshalb lade ich dich und deine Mutter für den 16.12. um 16:00 Uhr zu einem Adventskaffee ein. Mara und Lena werden auch kommen.
Herzliche Grüße
Deine Karoline«
Lydia fixierte das Blatt. Wie in Zeitlupe begriff ihr Hirn, was ihre Augen lasen.
»In letzter Zeit bin ich ganz gut klargekommen«, sagte Salomon mit brüchiger Stimme. »Mit diesem Brief ist es wieder so, als wäre sie gestern noch da gewesen.« Tränen standen in seinen Augen.
Hilflos verschränkte Lydia die Arme. Was sollte sie tun? Warum kam er mit so etwas zu ihr? War diese Sonja nicht besser geeignet, ihn zu trösten? Sie musterte ihn verstohlen. Er hatte den Kopf gesenkt, seine Hände lagen in seinem Schoß. Er sah aus wie ein kleiner Junge, den man allein am Bahnhof zurückgelassen hatte und der nicht wusste, wie er nach Hause kommen sollte.
Widerwillig stand Lydia auf und ging um den Schreibtisch herum. Legte eine Hand auf seine Schulter. Sofort drehte er sich zu ihr und vergrub sein Gesicht in ihrem Pullover. Sie strich ihm über das Haar, während er lautlos schluchzte, beugte sich zu ihm hinunter und schlang ihre Arme um ihn. Sie fühlte seine raue Wange an ihrem Hals, roch seine Haare, den Duft seiner Haut. Kaum merklich veränderten sich seine Bewegungen. Plötzlich waren es seine Lippen, die ihren Hals hinaufwanderten auf der Suche nach ihrem Mund. Sie wollte sich aus der Umarmung befreien, doch als seine Hände erst unter ihren Pulli, dann unter ihr T-Shirt glitten und über ihren nackten Rücken fuhren, bröckelte ihr Widerstand.
Kollegen sind tabu, schrie eine Stimme in ihrem Inneren, absolut tabu. Trotzdem wehrte sie sich nicht, als er ihr den Pulli über den Kopf streifte. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie daran, dass die Bürotür nicht abgeschlossen war, dann fegte die Begierde ihre Vernunft fort wie ein Orkan ein Kartenhaus. Als sie sein Hemd aus der Jeans zerrte und seinen Gürtel öffnete, hatte er ihr bereits die Hose ausgezogen. Er liebte sie mit der Gier eines Verdurstenden, der sich in einen Brunnen stürzt, und sie war gern dieser Brunnen, zog ihn tiefer und tiefer in sich hinein, bis sie glaubte, gemeinsam mit ihm ertrinken zu müssen. Verdammt, was passiert hier eigentlich, war das Letzte, was ihr durch den Kopf schoss, bevor sie ins Bodenlose fiel.
8
Die Luft in dem kleinen Lokal roch muffig und abgestanden. Obwohl nicht geraucht wurde, dünstete das Mobiliar kalten Qualm aus. Die Einrichtung war plüschig rot, die Beleuchtung schummrig. An der Theke saß eine spärlich gekleidete Brünette und schlürfte an einem Prosecco. Das ganze Szenario strahlte die Surrealität einer billigen Filmkulisse aus. Bei Tageslicht entpuppte sich das Interieur bestimmt als alt und schäbig, dann erkannte man den fleckigen Teppichboden, die abgewetzten Polster und die verdreckten Tischplatten.
Olaf Schwarzbach kam sich vor, als wäre er zu einem konspirativen Treffen verabredet. In gewisser Weise traf das sogar zu. Ihm war übel. Das Gefühl, Melanie zu hintergehen, hatte ein riesiges Loch in seinen Magen gefressen.
Weitere Kostenlose Bücher