Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Ermittlungen relevant sein.«
»Im Augenblick nicht.«
»Im Augenblick nicht? Was heißt das? Sie hatte im Augenblick kein Handy?«
»Ja. Genau. Sie hatte ihres verloren. Vor ein paar Wochen in der Stadt. Sie war mit Nora allein unterwegs. Ich fand das ja überhaupt nicht gut, aber die Kerstin, also Frau Diercke meinte, die Mädchen seien alt genug. An dem Nachmittag hat sie sich das Kleid gekauft, das sie – das sie trug, als …« Er verstummte.
»Sie war mit Nora in der Stadt und hat sich ein Kleid gekauft«, wiederholte Lydia rasch. »Bei der Gelegenheit hat sie das Handy verloren.«
»Ja.«
»Sie sagten, das sei ein paar Wochen her. Sie hatte aber noch kein neues Handy?«
»Nein. Wir wollten ihr nicht sofort ein neues kaufen. Sie sollte lernen, auf ihre Dinge zu achten. Dazu gehört, dass etwas Verlorenes nicht sofort ersetzt wird. Also musste sie erst mal ohne Handy auskommen. Wir hatten vor, ihr zu Weihnachten ein neues zu schenken, aber davon wusste sie noch nichts.«
»Ich verstehe. Und was ist mit einem Computer?« Am Tatabend war Lydia kurz in Tonis Zimmer gewesen. Sie konnte sich nicht erinnern, dort einen PC gesehen zu haben.
»Sie hatte keinen Computer. Dafür war sie noch zu jung. Wir wollten nicht, dass sie stundenlang vor dem Bildschirm sitzt oder im Internet auf Seiten stößt, die für ein Mädchen in ihrem Alter ungeeignet sind. Hier im Haus haben wir keinen Computer. Ich besitze einen Laptop, aber daheim benutze ich ihn fast nie.«
»Danke für die Auskunft. Gute Nacht.« Lydia legte auf. Schade, ein Handy oder ein Computer hätten vielleicht Hinweise liefern können. Morgen im Laufe des Tages würde endlich das Resultat der DNA -Analyse eintreffen, dann wussten sie mehr. Und mit ein bisschen Glück würde Michael Bruckmann zusammenbrechen und gestehen, wenn er mit den Ergebnissen konfrontiert wurde. Oder sie hatten nichts, womit sie ihn konfrontieren konnten, und mussten völlig umdenken.
Lydia griff nach der Flasche, die auf dem Tisch stand und schenkte nach. João Gilberto war verstummt. Sie nahm die Vinylscheibe vom Plattenteller und schob sie behutsam zurück in ihre Hülle. Nachdem sie die Platte an ihren Platz gestellt hatte, setzte sie sich an den Tisch, umfasste das Glas mit beiden Händen und horchte. Manchmal, wenn sie die Stille zuließ, hatte sie Glück, und ihr Vater sprach zu ihr. Seine Stimme war sanft und tröstlich. Er fand immer die richtigen Worte, schaffte es, die anstehenden Probleme auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Sie schloss die Augen und ließ sich in die Dunkelheit fallen. Rief in Gedanken seinen Namen. Doch niemand antwortete.
7
Freitag, 7. Dezember
Chris Salomon stürmte die Treppe hoch in den zweiten Stock. Er war spät dran. Nicht etwa, weil er den Abend wieder mit Sonja verbracht hatte und diesmal schwach geworden war; ganz im Gegenteil, er hatte sie gestern nicht gesehen. Nein, er war so leichtsinnig gewesen, die gestrige Post erst heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit aus dem Briefkasten zu holen. Ein fataler Fehler. Es war nichts Wichtiges dabei gewesen. Eine Rechnung, ansonsten lauter Werbung. Und ein offenbar selbst gebastelter rosa Umschlag, mit bunten Stickern beklebt und mit Sternchen und Blumen bemalt, der ihm vor Schreck beinahe aus der Hand gefallen wäre. Er war adressiert an Anna Salomon. Mit zitternden Händen hatte er dagestanden und die ungelenke Kinderschrift angestarrt, mit der der Name seiner Tochter auf den Umschlag geschrieben war. Was war das? Ein grausamer Scherz?
Kurz nach Annas Verschwinden waren solche Dinge häufig passiert. Die Stadt Köln hatte das Ehepaar Salomon aufgefordert, mit seiner Tochter zur Schuluntersuchung zu kommen, ein Kindermodenversandhaus, bei dem Stefanie öfter etwas gekauft hatte, schickte Prospekte mit der Herbstkollektion, die Praxis der Kinderärztin ließ anfragen, ob sie den Impftermin vergessen hätten. Im Laufe der Zeit waren diese Briefe seltener geworden, irgendwann hatten sie ganz aufgehört. Es hatte sich herumgesprochen, dass Anna nicht mehr da war. Und jetzt dieser Brief. Chris schob die Rechnung unter der Haustür durch, warf die Werbebriefe in die Mülltonne und steckte den bunten Umschlag mit zitternden Fingern in seine Lederjacke. Der Himmel war klar und versprach einen weiteren sonnigen Wintertag. Eigentlich wollte er die Harley nehmen, um zur Arbeit zu fahren. Wozu hatte er die Maschine nach der seit Monaten fälligen Reparatur Ende November sonst angemeldet? Aber jetzt
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