Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
allerdings nicht leichter machen, Lydia morgen in die Augen zu sehen.
Während er die spärlich beleuchtete nächtliche Straße entlangging, senkte sich das Gefühl, ein Versager zu sein, wie ein schwarzer Schatten über ihn. Er hatte seine Position als Starermittler bei der Kölner Kripo verspielt. Und jetzt sah es so aus, als setze er auch seine zweite Chance in Düsseldorf in den Sand. Warum machte er alles kaputt, was er anfasste?
Als er um die Straßenecke bog, sah er einen Wagen in seiner Einfahrt stehen. Er stutzte, doch dann erkannte er Sonjas Beetle. Verdammt. Er überlegte, ob er umkehren sollte. Er fühlte sich schmutzig. Wie konnte er ihr so gegenübertreten? Doch sie hatte ihn offenbar bereits gesehen. Die Wagentür wurde aufgestoßen. Sekunden später stand sie vor ihm.
»Das ist aber eine Überraschung«, stammelte er und hätte sich im gleichen Augenblick am liebsten die Zunge abgebissen. Wenn es eine Hitliste für dumme Sprüche gab, hatte dieser mit Sicherheit Aussicht auf einen Spitzenplatz.
Sonja schien das nicht zu stören.
»Ich hoffe, keine böse«, sagte sie lächelnd.
»Natürlich nicht. Möchtest du hereinkommen?« Noch so eine dämliche Floskel. Weshalb sonst hatte sie wohl vor seiner Tür gewartet? »Du musst entschuldigen, ich hatte einen anstrengenden Tag. Wenn ich etwas einsilbig klinge, bedeutet das nicht, dass ich mich nicht freue, dich zu sehen.«
Sie traten ein. Sonja ließ neugierig ihren Blick schweifen. »Hübsch hast du es hier. Gefällt mir.«
Er ging voran in die Küche, zog seine Jacke aus und warf sie über einen Stuhl. »Möchtest du etwas trinken? Bier? Wein? Ich gehe schnell duschen, ich muss den Schmutz der Arbeit loswerden.« Und nicht nur den, ergänzte er sarkastisch in Gedanken.
Sie streifte ihren Mantel ab und legte ihn ebenfalls über eine Stuhllehne. »Ein Glas Wein, bitte. Darf ich eben kurz dein Bad benutzen, bevor du duschst?«
»Natürlich«, antwortete er, während er im Regal nach einem halbwegs trinkbaren Rotwein suchte. »Die Treppe rauf und die erste Tür links.« Er entkorkte die Flasche und schenkte zwei Gläser ein. Sein Glas in der Hand, stellte er sich ans Fenster und musterte den von Straßenlaternen schwach erhellten Vorgarten. Selbst bei dieser Beleuchtung war nicht zu übersehen, dass er völlig verwildert war. Du musst dein Leben in den Griff kriegen, Salomon, dachte er. Du musst endlich aus diesem Loch kriechen, in dem du seit drei Jahren hockst, und wieder nach vorn blicken.
Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und erstarrte. Sonja stand ihm Türrahmen. Sie trug ein weinrotes Nichts aus Spitze, das mehr zeigte, als es verhüllte, und gefährlich aussehende, ebenso rote Pumps. Ihm stockte der Atem. Sie sah umwerfend aus. Ihren verheißungsvollen Körper hatte Chris schon bei ihrer ersten Begegnung unter dem Arztkittel erahnt. Ungläubig registrierte er, dass er zum zweiten Mal an diesem Abend eine Frau so sehr begehrte, dass es schmerzte.
»Gefalle ich dir?«, fragte Sonja.
»Falsche Frage«, murmelte er und trat auf sie zu. »Du raubst mir den Verstand.«
»Genau das hatte ich vor.« Sie packte ihn am Hemd und zog ihn zu sich. Ihr Kuss war leidenschaftlich und sanft zugleich.
»Ich wollte doch noch duschen«, protestierte Chris halbherzig. Er betete, dass Sonja nicht die andere Frau an ihm roch.
»Wir können ja zusammen duschen«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Er stöhnte und vergrub sein Gesicht an ihrem weichen, duftenden Hals.
Sie ließen sich Zeit, den Körper des anderen zu entdecken, erst unter der Dusche, dann nass und kichernd in seinem Bett. Es fiel ihm leicht, Sonja sacht und langsam zu lieben. Sie erwiderte seine Liebkosungen mit einer nahezu unschuldigen Zärtlichkeit, die ihn zutiefst anrührte. Der Unterschied zu Lydias hartem, forderndem Körper, den er in einem ekstatischen Rausch bezwungen hatte, hätte nicht größer sein können. Als er später neben Sonja lag und ihrem ruhigen gleichmäßigen Atem lauschte, verspürte er eine tiefe innere Zufriedenheit. Plötzlich gab es in seinem Leben wieder eine Zukunft, auf die er sich freuen konnte.
9
Samstag, 8. Dezember
Lydia heftete ihren Blick auf den Bildschirm und las den letzten Absatz des Berichts noch einmal durch. Sie war seit halb sechs in ihrem Büro. Nach dem Desaster gestern Abend hatte sie versucht, die Erinnerung an Salomons Berührung mit Hilfe eines anderen Kerls zu übertünchen. Es war ihr nicht gelungen. Sie hatte zwar
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