Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Schluck?«
»Nein, danke.«
»Bist wohl im Dienst?«
Halverstett starrte den Mann an. Er war jung, viel jünger, als er aussah, vermutlich erst Anfang zwanzig. Doch seine Augen wirkten müde. »Nein, ich bin nicht im Dienst.«
»Du bist doch der Bulle, der den Tod von dem Märchenonkel untersucht, oder?«
»Der bin ich.« Halverstett verzichtete darauf, ihm mitzuteilen, dass der Fall bereits abgeschlossen war. Er hatte keine Lust auf eine Tirade, wie ungleich die Todesfälle von reichen Leuten und Verlierern wie Fred Gärtner behandelt wurden. Man konnte es hundert Mal erklären, das Misstrauen blieb.
»Habt ihr euch den Ecki mal vorgenommen?«
»Wer ist Ecki?« Halverstett glaubte nicht wirklich an eine neue Spur, doch er spürte, wie sein Puls sich beschleunigte.
»Ecki ist Ecki. Ich weiß nicht, wie der weiter heißt. Der hängt normalerweise im Hofgarten ab.«
»Und warum sollten wir uns den vornehmen?«
»Weil er Zoff mit dem Märchenonkel hatte.«
Halverstett sah den Jungen an. »Wir haben uns umgehört. Du bist der Erste, der behauptet, der Märchenonkel hätte mit jemandem Streit gehabt.«
»Ich lüge nicht.«
»Worum ging es denn bei dem Streit?«
»Weiß ich nicht. Es war auch kein richtiger Streit. Ich saß daneben, als die beiden rumgezankt haben. Ich glaube, der Märchenonkel hatte was gefunden, und der Ecki hat behauptet, dass es ihm gehört. Das macht der immer. Wenn man was Gutes findet, kommt der an und sagt: Das ist meins, das hab ich verloren. Der spinnt.«
»Wie ist der Streit ausgegangen?«
»Der Märchenonkel ist abgehauen. Der Ecki hat noch ein bisschen rumgeschimpft und sich dann auch verdrückt.«
»Weißt du noch, wann das war?«
»Na, an dem Tag, als er gestorben ist. Der Märchenonkel, meine ich.«
Halverstett erhob sich. »Wo finde ich dich, wenn ich noch Fragen habe?«
»Na hier.« Er machte eine einladende Geste. »In meinem Wohnzimmer. Erstklassige Lage mit Rheinblick.«
Halverstett wandte sich ab. Er wusste, dass es ein Strohhalm war, an den er sich klammerte. Doch er war nicht erst seit gestern bei der Kripo. Im Laufe der Jahre hatte sich so mancher Strohhalm als verdammt solide erwiesen.
Lydia hatte das Gefühl, tausend Jahre nicht geschlafen zu haben; nicht die ideale Voraussetzung, um die Besprechung zu leiten. Doch sie hatte keine Wahl. Sie leerte ihren Kaffeebecher und trat ans Fenster. Noch fünf Minuten. Eine kurze Atempause, ein wenig Ruhe. Hinter ihr klopfte es, die Tür wurde behutsam geöffnet. Also nicht einmal fünf Minuten. Sie seufzte und drehte sich um. Gerd Köster stand vor ihr.
»Alles in Ordnung?«, fragte er und schloss die Tür hinter sich.
»Klar.« Sie hatte keine Lust, sich verhätscheln zu lassen.
»Du siehst nicht gut aus, Lydia.« Er musterte sie, sein Gesichtsausdruck war besorgt. »Ganz bleich und mager. Bedrückt dich etwas?«
»Nein!« Am liebsten hätte sie ihn angeschrien. Schon allein weil er es wagte, sie Lydia zu nennen. Gerd Köster war der Einzige, dem sie das manchmal durchgehen ließ. Doch wenn er es dazu benutzte, ihr auf die väterliche Tour zu kommen, machte sie das wütend.
»Schon gut.« Er hob die Hände. »Ich wollte dir nicht zu nahetreten. Ich wollte nur sagen: Wenn du eine Schulter zum Anlehnen brauchst, ich bin da.«
»Danke.« Es klang ironischer, als sie beabsichtigt hatte.
Doch Köster schien es nicht bemerkt zu haben. »Kein Kerl der Welt ist es wert, sich für ihn die Gesundheit zu ruinieren.«
Lydia starrte ihn an. Worauf wollte er hinaus?
»Entschuldige.« Er sah plötzlich verlegen aus. »Es ist nur … ich meine, du siehst nicht so aus, als wäre es der Fall, der dir Sorgen bereitet.«
»Ach, nein?« Sie schaffte es kaum noch, ihre Wut im Zaum zu halten, lediglich die Neugier brachte sie dazu, sich zu beherrschen. Und die Angst. Konnte es sein, dass Köster gestern Abend etwas gesehen hatte? Dass er über sie und Salomon Bescheid wusste? »Wonach sieht es denn für dich aus?«
»Nach Liebeskummer.«
Sie lachte auf. »Da habe ich wohl was verpasst.«
»Wie du meinst.« Er rückte seine Brille zurecht. »Ich wollte mich nicht einmischen. Geht mich ja nichts an. Ich wollte nur …« Er brach ab.
Lydia blickte auf die Uhr. »Es wird Zeit.« Sie ging zur Tür.
Köster folgte ihr zögernd. Er hielt die Klinke fest, sah sie an. Von Verlegenheit keine Spur mehr. »Ich bin jedenfalls da. Jederzeit. Auch mitten in der Nacht, wenn es sein muss. Falls du es dir anders überlegst.« Er machte die
Weitere Kostenlose Bücher