Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
schreiben solche Briefe nicht selbstständig. Das sind die Formulierungen der Mutter.«
»Verstehe.« Natürlich! Da hätte sie auch selbst drauf kommen können.
»Die würden gar keinen Brief schreiben«, fuhr Chris fort, »sondern vermutlich über irgendein Internetforum Kontakt aufnehmen.« Er hob die Schultern. »Na ja, mit acht vielleicht noch nicht, aber mit zehn oder zwölf bestimmt.«
Lydia nickte nachdenklich. »Zu blöd, dass Antonia Bruckmann keinen Computer hatte.«
Salomon knüllte den Brief zusammen und warf ihn in den Müll. »Das heißt aber nicht, dass sie nicht doch im Netz unterwegs war. Zum Beispiel vom Rechner ihrer Freundin aus.«
Lydia versuchte, sich zu erinnern. »Hat Nora einen Computer? Ich gebe zu, ich habe nicht drauf geachtet.«
»In ihrem Zimmer stand keiner. Aber es gibt bestimmt einen in der Wohnung. Und Noras Mutter ist nicht so streng wie die Bruckmanns. Nora darf ihn bestimmt benutzen.«
»Wir sollten nachsehen, ob wir die Mädchen irgendwo im Netz finden. Bei Schüler-VZ, Facebook oder wie diese Netzwerke heißen.« Lydia atmete erleichtert durch. Sie hatten zu so etwas wie Normalität zurückgefunden. In ein paar Wochen wäre das, was zwischen ihnen passiert war, nichts weiter sein als eine blasse Erinnerung.
Salomon setzte sich. »Wir sollten Ingo darauf ansetzen. Ich glaube, der kennt sich in diesen Dingen ganz gut aus.«
»In Ordnung. Machst du das?«
»Klar.« Er stand wieder auf und sah sie an. »Tust du mir in der Zwischenzeit einen Gefallen?«
Sie zuckte unwillkürlich zusammen. »Was denn?«
»Lass den Brief verschwinden. Ich traue mir selbst nicht. Es könnte sein, dass ich ihn in einem schwachen Moment wieder aus dem Müll fische.«
Als er draußen war, schnappte Lydia sich das Schreiben und hielt ihr Feuerzeug daran. Sie legte es auf die Fensterbank und sah zu, wie es sich in den Flammen drehte und wand. Sie hatte gerade die Asche im Waschbecken weggespült, als Salomon zurückkehrte, Ruth Wiechert im Schlepptau.
»Riecht verbrannt hier«, sagte sie. »Ich dachte, ihr beiden raucht nicht.«
»Stimmt, aber ich gebe gern Feuer.« Lydia warf Salomon einen Blick zu, der unruhig im Zimmer umherschaute, vermutlich auf der Suche nach den Überresten des Briefs.
Ruth machte einen Laut, der wie »Och« klang, und blinzelte verunsichert. Wahrscheinlich fühlte sie sich auf den Arm genommen. Dabei hatte Lydia ihr die Wahrheit gesagt. Sie hatte tatsächlich immer ein Feuerzeug dabei, weil es sich als sehr effektives Instrument zur Kontaktaufnahme erwiesen hatte. Da sie selbst nicht rauchte, war sie diejenige, die Feuer gab. Es funktionierte erstaunlich oft.
Chris räusperte sich. »Ruth hat etwas herausgefunden.«
»Und?«
»Diese Klassenkameradin, Pia, ich habe mit ihr gesprochen«, sagte Wiechert. »Sie hat mir erzählt, dass Antonia vor einigen Wochen ein Mädchen kennengelernt hat, eine neue Freundin. Sie und Nora hätten ein großes Geheimnis daraus gemacht. Niemand durfte etwas wissen. Toni und dieses Mädchen seien wohl ziemlich dick befreundet gewesen, Nora war angeblich außen vor. Pia meint, dass sie vielleicht eifersüchtig war.«
»Und?«, fragte Lydia ungeduldig. »Wer ist diese geheimnisvolle neue Freundin? Geht sie auf die gleiche Schule?«
»Nein. Sie wohnt in einem anderen Stadtteil. Leider wusste Pia nur den Vornamen. Sie heißt Leonie.«
11
Erik Schmiedel schaltete den Recorder ein und sagte den üblichen Spruch auf. Dann wandte er sich an den Mann, der mit zusammengesunkenen Schultern auf dem Stuhl ihm gegenüber saß.
»So, Herr Palmerson. Da sind wir wieder. Müssen wir noch einmal von vorn anfangen? Oder möchten Sie endlich reden?«
»Ich habe alles gesagt«, flüsterte der Mann.
»Also noch mal von vorn«, sagte Schmiedel mit einem kurzen Seitenblick auf seinen Kollegen Reinhold Meier, der neben ihm am Verhörtisch Platz genommen hatte. »Wir haben Zeit. Erzählen Sie uns, wie es angefangen hat.«
»Wie was angefangen hat?«
»Na, ihr spezielles – wie soll ich es nennen – Hobby? Laster?«
»Ich weiß nicht.« Palmerson betrachtete seine Hände. »Es war immer schon da. Dieser – dieser Drang, es den Frauen zu zeigen.«
»Es den Frauen zu zeigen?«, rief Meier dazwischen. »Was genau wollten Sie den Frauen zeigen?«
»Na ja, Sie wissen schon. Ich wollte, dass sie mir dabei zusehen. Ich fand das – erregend.«
»Und es war Ihnen egal, wie die Frauen das fanden?«, fragte Schmiedel.
Palmerson zuckte mit den Schultern.
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