Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Ich würde der Sache nachgehen. Ist doch merkwürdig, dass die Eltern es nicht gleich erwähnt haben.«
»Warum sollten sie? Wenn es vollkommen irrelevant ist?«, fuhr Meier dazwischen.
»Meier! Lass sie ausreden!« Lydia rieb sich die Schläfen. Ihr Schädel hatte noch keine Ruhe gegeben. Im Gegenteil, das Pochen wurde immer heftiger.
»Man kann nie wissen, was noch dahintersteckt«, sagte Ruth Wiechert mit einem wütenden Blick zu Meier. »Ich würde den leiblichen Vater auf jeden Fall überprüfen.«
»Gut, danke.« Lydia legte den Kuli auf den Tisch. »Ich sehe das ähnlich wie die Mehrheit. Ich habe meine Zweifel, was Palmerson angeht, aber die Sache mit der Vaterschaft erscheint mir doch etwas abwegig. Ich schließe mich Salomon an. Wir sollten uns die Familie selbst nochmals genau ansehen – und natürlich als Erstes Bruckmann fragen, ob er tatsächlich wusste, dass er nicht Tonis Vater ist.«
»Ganz wie du meinst«, sagte Wiechert. Sie klang beleidigt. »Aber ich glaube, du machst einen Fehler.«
»Das Risiko nehme ich in Kauf.« Lydia wollte sich abwenden, doch Ruth Wiechert war noch nicht fertig.
»Es gibt da noch eine Klassenkameradin«, sagte sie, »die in den letzten Tagen nicht in der Schule war. Mit der würde ich gern heute noch reden. Angeblich war sie öfter mit Nora und Antonia zusammen. Vielleicht weiß sie etwas. Ist das in Ordnung?«
Lydia bemühte sich, den eingeschnappten Tonfall zu überhören. »Gute Idee. Mach das.« Sie sah zu Meier und Schmiedel hinüber. »Und ihr zwei befragt Palmerson noch einmal.«
»Geht klar, Chefin.«
»Ich wäre gern dabei«, sagte Schröder. »Schließlich sind Kerle wie der mein Spezialgebiet.«
»Im Augenblick nicht. Meier und Schmiedel sind ein eingespieltes Team. Du würdest sie nur durcheinanderbringen.«
Schröder öffnete den Mund, um zu protestieren, fing jedoch einen warnenden Blick von Gerd Köster auf und schwieg.
»Es gibt noch was Neues aus dem Labor«, fuhr Lydia fort. Sie hatte den Blickwechsel zwischen Köster und Schröder genau beobachtet, doch sie ließ sich nichts anmerken. »An einem der Besenstiele aus dem Haus Bruckmann waren Blutreste. Antonias Blutgruppe. DNA -Abgleich steht allerdings noch aus. Das Blut war am Ende des Stiels, also genau dort, wo man es bei einer vorgetäuschten Vergewaltigung erwarten würde.«
»Wie gut, dass die Kleine da schon tot war«, flüsterte Köster und rieb sich die Stirn.
»Außerdem befanden sich zahlreiche Fingerabdrücke auf dem Holz.« Lydia zog es vor, nicht auf Kösters Einwurf einzugehen. »Die meisten allerdings verwischt. Abgleich steht noch aus. Dürfte aber nicht ganz leicht werden. Eigentlich hatte sich die KTU erhofft, anhand der Position der Abdrücke die herausfiltern zu können, die vom Täter stammen. Er hat ja den Besen nicht so gehalten wie beim Fegen. Aber es sieht nicht gut aus.«
»Schade«, sagte Schmiedel. »In diesen amerikanischen Krimiserien funktioniert das immer.«
»Das hier ist aber keine Fernsehserie«, fuhr Wiechert ihn an.
»Ist mir schon klar«, gab er gelassen zurück. »Manchmal wünsche ich mir eben, wir wären technisch schon so weit, wie die Fernsehproduzenten es uns vorgaukeln.«
»Solange das nicht der Fall ist, arbeiten wir mit den Methoden weiter, die uns zur Verfügung stehen.« Lydia hatte aus den Augenwinkeln registriert, wie Salomon bei Ruth Wiecherts Ausbruch die Augen verdreht hatte. Und sie musste ihm innerlich zustimmen. Warum musste diese Frau immer so mit ihren Gefühlen hausieren gehen? Das machte es für sie alle nur schwerer. Und Sympathien brachte es ihr auch nicht ein. Im Gegenteil, sie ging allen damit auf die Nerven. Lydia verteilte weitere Aufgaben und beendete die Besprechung.
Danach schickte sie Salomon ins Büro, den Bericht über das Gespräch mit Nicole Bruckmann schreiben, und machte sich auf den Weg zur Staatsanwältin, um sie über die neuesten Entwicklungen zu unterrichten.
Es war bereits Mittag, als Lydia in den Trakt der Mordkommission zurückkehrte. Auf dem Gang herrschte Stille. Sie trat in ihr Büro, wo Chris Salomon am Fenster stand und hinausstarrte. Den Brief, der am Tag zuvor die Katastrophe ausgelöst hatte, hielt er in der Hand.
»Schmeiß ihn weg«, sagte Lydia.
»Ja.« Er rührte sich nicht.
Ihr fiel etwas ein. »Der Text klang übrigens ziemlich komisch für einen Kinderbrief. So gestelzt.«
Er drehte sich um und lächelte müde. »Kinder in dem Alter
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