Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
herunterbekam. »Es wird auch in Zukunft hin und wieder vorkommen, bei einem dringenden Fall. Doch im Augenblick bearbeite ich nur Routinesachen, ich habe mich absichtlich dafür gemeldet, damit ich etwas mehr Zeit für uns habe.«
»Und du vermisst die spektakulären Morde nicht?«, fragte Veronika spitz. »Deine Kollegen bearbeiten doch gerade den Fall mit dem Mädchen, das die Treppe hinuntergestürzt ist. Ich habe in der Zeitung davon gelesen. Wärst du nicht gern dabei?«
Halverstett legte sein Brötchen weg. Ihm war der Appetit vergangen. Was war nur los mit Veronika? Wollte sie ihn quälen? Auf die Probe stellen? Oder war sie ehrlich an dem interessiert, was er fühlte? »Natürlich würde mich dieser Fall mehr reizen als Selbstmorde auf Bahngleisen oder Stadtstreicher, die im Suff stürzen«, antwortete er, um Geduld bemüht. »Aber hinter jedem Fall steht ein Mensch, dessen Tod geklärt werden muss. Und manchmal sind auch diese Fälle nicht so klar, wie sie auf den ersten Blick scheinen.«
»Ach?«
»Das interessiert dich doch nicht.« Er gab sich keine Mühe mehr, seinen Ärger zu verbergen.
Doch Veronika ließ sich nicht beirren. »Machen wir es wie mit der Kunst. Versuch, mein Interesse zu wecken.«
Halverstett unterdrückte einen Seufzer. Eigentlich wollte er dieses Wochenende tatsächlich nicht an die Arbeit denken. Andererseits hatte Veronika ihm versprochen, das, was ihm wichtig war, mehr zu respektieren; er musste ihre Bemühungen würdigen. Er erzählte ihr von Fred Gärtner, dem Märchenonkel, dessen Fall er diese Woche hatte abschließen müssen, obwohl sein Instinkt ihm sagte, dass er noch nicht abgeschlossen war.
»Gab es denn irgendwelche Indizien, die in eine andere Richtung gedeutet haben?«, fragte Veronika.
»Außer meinem Bauchgefühl? Nein.«
Veronika nahm einen Schluck Kaffee und musterte ihn, als wäre er das Werk eines neuen, vielversprechenden Kunsttalents, dessen Qualitäten sie noch nicht überzeugt hatten. »Könnte es sein, dass du einfach nur möchtest, dass mehr dahintersteckt?«
»Warum?«, fragte Halverstett barsch zurück.
»Weil du viel lieber an komplizierten Fällen arbeiten würdest, es aber mir zuliebe im Augenblick nicht tust.« Sie klang triumphierend, so als hätte sie einen Sieg über ihn errungen.
Er starrte sie mit offenem Mund an.
»Weißt du was, Klaus?«, fuhr Veronika fort. »Wir müssen doch nichts erzwingen. Unsere Ehe hat dreißig Jahre lang gut funktioniert, indem wir beide uns gegenseitig Freiräume gelassen haben, sodass jeder seinen Interessen nachgehen konnte. Warum sollen wir jetzt damit anfangen, uns füreinander zu verbiegen?«
»Was meinst du damit?«
Sie stand auf und begann, den Tisch abzuräumen. »Fahr ins Präsidium und lies dir noch einmal die Akte von diesem Stadtstreicher durch. Oder tu, was auch immer du tun musst. Ich fahre in die Galerie. Mit einer Freundin. Und heute Abend gehen wir schön essen. Was hältst du davon?«
Er nickte. Das klang vernünftig. Aber es stimmte nicht. Es hatte nicht dreißig Jahre lang gut funktioniert. Mindestens die letzten zehn Jahre hatten sie nur noch nebeneinanderher gelebt. Und vorher hatten ihre Söhne die Kluft zwischen ihnen überdeckt. Er stand auf, er hatte keine Lust, darüber nachzudenken.
Kurz darauf stellte Halverstett seinen Wagen im Altstadtparkhaus ab. Er drängte sich zwischen den Menschenmassen hindurch, die mit Weihnachtseinkäufen beschäftigt waren, ließ den Weihnachtsmarkt mit seinen bunten Farben und atemberaubenden Gerüchen hinter sich und schlenderte scheinbar ziellos, doch unaufhaltsam, auf den Ort zu, der ihn magisch anzog. Die Treppe am Burgplatz. Trotz der Kälte setzte er sich auf die Stufen und starrte auf das graue, gurgelnde Wasser des Rheins. Ein Stück weiter hockten ein paar junge Leute in schwarzen, zerrissenen Klamotten und mit fantasievollen Frisuren. Er überlegte, ob er ihnen ein paar Fragen stellen sollte, ließ es aber bleiben. Ohne es zu wollen, dachte er an Maren. Sie war so anders als Veronika. Direkt. Aufrichtig. Bei Veronika hatte er immer das Gefühl, dass alles, was sie sagte und tat, sorgfältig durchdacht und geplant war. Nicht dass er sie für eine Intrigantin hielt. Doch sie hatte so viele Gesichter, dass ihm die Frau dahinter immer noch fremd war.
Ein Mann ließ sich neben ihm nieder. Er stank grauenvoll, doch Halverstett zwang sich, nicht wegzurücken. Der Mann hielt ihm eine halbvolle Schnapsflasche hin. »Auch einen
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