Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
wild umherzuhüpfen.
Kerstin gab schließlich auf und versuchte, den Tag für ihre Tochter so schön wie möglich zu gestalten. Trotz der Enttäuschung. Trotz der Angst, die ihr die Kehle zuschnürte. Vielleicht verheimlichte Nora ja tatsächlich nichts vor ihr. Nora und Toni hatten sich einfach durch ein Mädchen zu ein paar kleineren Ladendiebstählen verführen lassen. Nachdem Nora begriffen hatte, dass Leonie kein guter Umgang war und sie und Toni manipulierte, hatte sie den Kontakt abgebrochen. Einige Zeit später war Toni auf tragische Weise ums Leben gekommen, als ein Sexualstraftäter in ihr Haus eindrang. Es existierte kein Zusammenhang zwischen diesen Vorfällen, und sie musste sich keine weiteren Gedanken machen. Nora verstand nun, dass ein Ladendiebstahl keine Mutprobe war, sondern eine Riesendummheit. Nur darauf kam es an. Jetzt hieß es, nach vorn zu schauen.
Kerstin ging ins Wohnzimmer, wo Tommy sie schwanzwedelnd begrüßte. Sie streichelte ihn kurz, dann schickte sie ihn auf seine Decke, wo er sich folgsam niederließ. Er schien der Einzige zu sein, bei dem ihre Erziehung ohne Rückschläge gefruchtet hatte. Kerstins Blick fiel auf die Bierflasche, die auf dem Couchtisch stand. Ärger stieg in ihr auf. Sie sah es nicht gern, wenn Jan Bier trank, noch dazu aus der Flasche. Vor allem aber hatte sie ihn gebeten, die leeren Flaschen wegzuräumen. Das tat er allerdings nur selten. Und sie schaffte es nicht, ihn deswegen zur Rede zu stellen, weil er ihr so viel half. Er war an diesem Wochenende mehrfach mit Tommy draußen gewesen, hatte mit Nora Mensch ärgere dich nicht gespielt und ihr beim Einkaufen geholfen. Da wollte sie nicht undankbar sein. Sie griff nach der Flasche, hielt aber in der Bewegung inne.
In den letzten Wochen war Jan ein paarmal mit Nora unterwegs gewesen, einmal fast den ganzen Samstag. Mit ihrem Auto. Eigentlich freute sich Kerstin, dass ihr Sohn sich so um seine kleine Schwester kümmerte, doch manchmal hatte sie den Verdacht, dass er sie nur vorschob, damit er sich das Auto ausleihen konnte. Wer weiß, zu was für merkwürdigen Ausflügen er Nora mitnahm, was sie alles zu sehen bekam. Vermutlich war diese Leonie dagegen völlig harmlos.
Kerstin seufzte. Jan hatte wirklich alles durchexerziert. Auch bei ihm hatte es mit ein paar harmlosen Ladendiebstählen angefangen. Sie hatte die Kommissarin nicht angelogen, nach der peinlichen Entschuldigungstour durch die Geschäfte hatte Jan schlagartig aufgehört zu klauen. Verschwiegen hatte sie ihr, dass er danach die Schule geschwänzt, Alkohol getrunken und Drogen genommen hatte, bis sie und Heiner gemeinsam die Notbremse zogen. Glücklicherweise war es für sie beide nie ein Problem gewesen, an einem Strang zu ziehen. Heiner mochte ein notorischer Fremdgänger und ein schlechter Ehemann sein, doch er war ein guter Vater und hatte ihr in dieser Krise bedingungslos zur Seite gestanden. Jan war für einige Monate zu seinem Vater gezogen und geläutert nach Hause zurückgekehrt. Zwar war er danach kein Musterschüler geworden, doch er hatte bis zum Ende durchgehalten, einen passablen Abschluss gemacht und angefangen zu studieren. Kerstin hatte zwar den Verdacht, dass er nicht gerade der fleißigste Student war, doch da wollte sie sich nicht mehr einmischen. Jan musste jetzt seinen eigenen Weg finden, und sie hoffte, dass es ihm gelang.
Kerstin drehte die Bierflasche in ihrer Hand. Sie wollte das alles nicht noch einmal durchmachen. Bei Nora würde sie noch genauer hinschauen als bisher. Vielleicht sollte sie Heiner bitten, sich ein bisschen um seine Tochter zu kümmern. Schließlich war er im Augenblick arbeitslos und hatte jede Menge Zeit. Ja, das war eine gute Idee. Heiner konnte sie ruhig ein wenig entlasten. Noch heute würde sie ihn anrufen.
16
Montag, 10. Dezember
Über Nacht war der wenige Schnee weggetaut, und die Sonne sorgte für nahezu frühlingshafte Temperaturen. Olaf Schwarzbach wertete das als gutes Omen. Er hatte seinem ältesten Mitarbeiter für die kommende Woche die Verantwortung für den Betrieb übertragen, um sich ganz seiner Familie widmen zu können. Heute gingen sie zu einem Beratungsgespräch beim Sozialpsychiatrischen Dienst. Er hatte Melanie gestern Abend darüber informiert, und sie hatte zumindest nicht sofort protestiert. Sie würden es irgendwie schaffen.
Er stellte die Kaffeekanne auf den Tisch und rief: »Frühstück ist fertig!«
Von oben war nichts zu hören. Gerade als er nachsehen wollte,
Weitere Kostenlose Bücher