Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Brille wie die eines exotischen Insekts aussahen. Sein Körper war an verschiedene Apparaturen angeschlossen, ein EKG-Gerät zeichnete seine Herztätigkeit auf, aus einem Infusionsbeutel tröpfelte eine klare Flüssigkeit in seine Armbeuge. Chris setzte sich auf einen Stuhl, Lydia blieb am Fußende des Bettes stehen. Sie hatte ihn gebeten, die Befragung durchzuführen.
»Herr Palmerson, erinnern Sie sich an mich?«, begann Chris. »Christopher Salomon, ich bin bei der Kriminalpolizei.«
Palmerson nickte. Zumindest bewegte er seinen Kopf in einer Weise, die Chris als Nicken deutete.
»Sie wissen, warum ich hier bin?«
Wieder eine Kopfbewegung.
»Meine Kollegen, Herr Meier und Herr Schmiedel, haben Sie gestern auf dem Präsidium vernommen. Wegen der sexuellen Übergriffe auf Frauen, aber auch wegen des Todes der kleinen Antonia.«
Bei der Wendung »sexueller Übergriff« hatte Palmerson gezuckt, doch nichts sonst deutete darauf hin, dass er überhaupt wusste, wovon die Rede war.
»Haben Sie uns etwas zu sagen, Herr Palmerson?«, fragte Chris. Er war sich sicher, dass der Mann genau wusste, um was es ging, mehr noch, dass er reif war wie ein Apfel, der rot und prall im goldgelben Herbstlaub hing. Dass er nur einen kleinen Schubser brauchte, um zu gestehen. Sofern er etwas zu gestehen hatte.
»Ich habe versucht, es zu unterdrücken«, flüsterte Palmerson. »Aber es war zu stark. Es hat an mir gezerrt. Es …« Seine mageren Hände verkrampften sich. Tränen liefen ihm über die Wangen. »Ich wollte sie nicht erschrecken. Ich wollte ihnen nicht wehtun. Ich wollte nicht …«
»Was wollten Sie nicht?« Chris beugte sich vor. Die Stimme des Mannes war kaum zu verstehen.
»Es tut mir so leid«, flüsterte Palmerson. »Ich habe das nicht gewollt.«
Ein Piepsen zerschnitt die Stille im Krankenzimmer.
»Scheiße«, zischte Lydia hinter ihm.
»Herr Palmerson! Was wollten Sie nicht?«, wiederholte Chris.
»Die arme Kleine«, röchelte Palmerson. »Ich wollte sie nicht … tot … Oh Gott, was habe ich nur getan?«
Lydia beugte sich vor. »Was tut Ihnen leid? Was haben Sie getan?«
»Tot …« Er röchelte.
»Was haben Sie getan?«, wiederholte Lydia.
Eine Schwester kam ins Zimmer gestürzt, gefolgt von einer Ärztin.
»Raus hier«, brüllte die Ärztin. »Sofort!«
Chris ließ sich das nicht zweimal sagen. Er erhob sich. Benommen ging er den Korridor entlang bis zu dem Vorraum mit den Aufzügen.
Lydia folgte ihm. Eine Weile sprach keiner von ihnen.
»War das jetzt ein Geständnis?«, fragte Chris schließlich.
»Keine Ahnung«, murmelte Lydia. »Aber es hat sich verdammt danach angehört.«
15
Lydia ließ die Nadel auf die Platte gleiten, lauschte dem kurzen Knistern, bevor die Musik einsetzte.
Só danço samba, só dan ç o samba, vai.
Sie schloss die Augen, nippte an ihrem Whisky und ließ sich für einen Moment weit wegtragen, an einen anderen Ort, in eine andere Zeit.
Ein Auto hupte draußen auf der Straße, Bremsen quietschten, und die Wirklichkeit hatte sie wieder fest im Griff. Sie hatten früh Schluss gemacht heute. Nach Palmersons Beinahe-Geständnis hatte Weynrath darauf bestanden, die Ermittlungen einzustellen. Salomon und sie hatten auf ihn eingeredet – vergeblich. Weynrath hatte einen geständigen Täter, zumindest bildete er sich das ein, also wollte er keine Ressourcen mehr verschwenden.
Salomon war für seine Verhältnisse regelrecht ausfallend geworden.
»Er hat nicht gestanden«, hatte er hervorgestoßen. »Er hat nicht ein einziges Mal gesagt, dass er Toni getötet hat. Verdammt, wie können Sie nur so verbohrt sein!«
Weynrath war aufgesprungen. »Keine weitere Diskussion. Er hat von dem Mädchen gesprochen, er hat ihren Tod erwähnt und gesagt, dass er es nicht wollte. Das ist für mich ein Geständnis. Basta! Und jetzt raus hier, bevor Sie etwas sagen, was Ihnen später leidtut!«
Salomon wollte etwas erwidern, doch Lydia zerrte ihn aus Weynraths Büro. Jede weitere Diskussion war sinnlos. Noch gab es ein paar Dinge zu erledigen. Es mussten die letzten Spuren ausgewertet, Berichte geschrieben werden. Morgen fand eine abschließende Besprechung statt, auf der sie entschieden, wie es weiterging. Vielleicht war Palmerson bis dahin wieder ansprechbar, und sie konnten ihn erneut vernehmen. Sollte das aber nicht der Fall sein und Weynrath bestand auf der Auflösung der »Moko Toni«, blieb nur die Hoffnung, dass die Staatsanwaltschaft ihnen ihre dürftigen Beweise um die Ohren
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