Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
zufällig was von einem Zettel?«
Chris sah sie fragend an. »Was für ein Zettel?«
»Etwas zum Thema Hochmut.«
Was sollte das? Wollte sie ihn auf den Arm nehmen? »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»Dann ist ja gut.« Sie stieß ohne Erklärung die Tür auf.
Weynrath erwartete sie mit verschränkten Armen und wutverzerrtem Gesicht. »Wo um alles in der Welt haben Sie gesteckt, Louis?«
»Es ist Sonntag.« Sie setzte sich.
Chris tat es ihr gleich. Sie hatte mehr Erfahrung mit ihrem Chef, also überließ er ihr das Gespräch. Solange Weynrath ihm nicht direkt eine Frage stellte, würde er den Mund halten.
»Ich weiß, welcher Tag ist«, erwiderte Weynrath, doch er klang schon weniger ungehalten. »Sie haben also mal ausgeschlafen, oder was?«
»Ich habe zwei Zeugen befragt. Die Eltern dieser Leonie.«
»Die geheimnisvolle Freundin, aha.« Weynrath war offenbar im Bilde. »Es ist sehr ehrenhaft, Louis, dass Sie sich so ins Zeug legen, doch Sie sollten sich auf unseren Hauptverdächtigen konzentrieren. Das ist keine Familientragödie, auch wenn Sie noch so sehr versuchen, eine daraus zu machen.«
»Das ist noch nicht erwiesen. Solange wir keine eindeutigen Beweise haben oder ein Geständnis, möchte ich die anderen Ermittlungsansätze nicht aufgeben.«
»Dann holen Sie endlich ein Geständnis aus ihm raus! Fahren Sie ins Krankenhaus und nehmen Sie diesen Perversen in die Mangel!«
»Da war ich heute auch schon. Er ist immer noch nicht vernehmungsfähig.«
Chris warf ihr einen überraschten Blick zu. Sie schien tatsächlich bereits seit den frühen Morgenstunden unterwegs zu sein. Sein Gewissen versetzte ihm einen Stich.
Weynrath lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände über dem Bauch. Vermutlich sollte die Position Souveränität und Überlegenheit signalisieren, doch der kleine, dicke Mann wirkte so lächerlich auf dem Riesenstuhl, dass sie genau das Gegenteil bewirkte. »Was haben wir denn gegen diesen Palmerson in der Hand?«, fragte er. »Reicht das noch nicht für die Staatsanwaltschaft?«
Lydia schüttelte den Kopf. »Wir haben nur Indizien. Seine Fingerabdrücke an der Terrassentür, seine Fußabdrücke im Garten. Eine Zeugin, die nach wie vor darauf beharrt, dass er sie angegriffen hat.«
»Dieses Mädchen?«
»Katja Kramer, ja.« Lydia beugte sich vor. »Selbst wenn er sie angegriffen hätte, wäre das kein Beweis dafür, dass er Antonia getötet hat. Wir haben nichts gegen ihn in der Hand.«
Weynrath kratzte sich am Kinn. »Sie glauben nicht, dass er es war?«
Lydia schüttelte den Kopf.
»Und Sie?« Er sah Chris an.
Chris dachte einen Augenblick nach. »Ich könnte mir vorstellen, dass es ein Unfall war, ganz ähnlich wie bei Katja. Dass er dem Mädchen gar nicht wehtun wollte. Aber ich traue ihm nicht zu, dass er sie nach ihrem Tod so furchtbar traktiert hat. Das passt nicht zu ihm.«
Weynrath seufzte. »Besteht die Aussicht, dass wir noch was gegen ihn finden?«
»Die Spuren an seiner Kleidung sind noch nicht vollständig ausgewertet«, sagte Lydia.
»Dann beten Sie«, stieß Weynrath hervor. »Heute ist schließlich Sonntag, wie Sie so treffend bemerkt haben, Frau Kollegin.«
Lydia schien das als Verabschiedung zu verstehen und erhob sich.
Im gleichen Augenblick klopfte es an der Tür, ein Uniformierter steckte den Kopf herein. »Entschuldigen Sie die Störung.«
»Was gibt es?«, bellte Weynrath und blitzte ihn an.
»Eine dringende Nachricht für Frau Louis. Aus dem EVK. Walter Palmerson kann jetzt befragt werden.« Der Mann verschwand sofort wieder, als hätte er Sprengstoff ins Zimmer geworfen.
»Ha!« Weynrath knallte die flache Hand auf den Tisch. »So schnell kann das gehen mit dem Beten. Hätte gar nicht gedacht, dass Sie einen so guten Draht nach oben haben, Louis.« Er grinste selbstzufrieden über seinen Witz.
Chris warf Lydia einen kurzen Blick zu, doch ihr Gesicht war ausdruckslos. Sie gingen zur Tür.
»Knöpfen Sie sich diesen Irren vor!«, brüllte Weynrath ihnen hinterher. »Wagen Sie es ja nicht, ohne ein Geständnis zurückzukommen!«
Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, schauten Lydia und Chris sich schweigend an. Dann ging Chris zu Köster, um ihm zu sagen, dass die Besprechung eine weitere Stunde warten müsse.
Walter Palmerson war über Nacht um Jahre gealtert. Während er bei seiner Verhaftung fast alterslos gewirkt hatte, blickte ihnen nun ein Greis aus dem weißen Krankenhausbett entgegen, dessen Augen durch die
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