Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
ertönten Schritte auf der Treppe. Melanie kam in die Küche, frisch geduscht und ordentlich zurechtgemacht.
»Eigentlich habe ich gar keinen Hunger«, sagte sie mit einem Blick auf den reichlich gedeckten Tisch.
»Iss wenigstens eine Kleinigkeit«, sagte Olaf und schenkte ihr Kaffee ein. »Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauert. Besser, du hast etwas im Magen.«
Sie betrachtete ihn argwöhnisch von der Tür her. »Warum müssen wir da hingehen?«
»Ich habe es dir doch erklärt. Du musst eine Therapie machen, damit ihr beide gesund werden könnt, Leonie und du.«
Melanie betrachtete ihn schweigend.
»Es ist am besten so«, sagte er. »Bitte, vertrau mir.«
»Ich habe dir vertraut.« Sie klang ruhig. »Achtzehn Jahre lang.«
Er trat zu ihr. »Das kannst du immer noch. Bitte, versuch es wenigstens.«
Er wollte nach ihren Händen greifen, doch sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hältst mich für verrückt.«
»Um Himmels willen, nein! Ich halte dich nicht für verrückt, Melanie. Du bist krank, psychisch krank, und ich möchte dir helfen.«
»Und wenn ich keine Hilfe will?«
»Was ist mit Leonie? Ist dir denn egal, was mit ihr geschieht?«
»Natürlich nicht!« Sie wandte sich ab und trat ans Fenster. »Warum hast du sie mir weggenommen, Olaf?«
»Das habe ich dir doch erklärt.« Er versuchte, nicht gereizt zu klingen, doch es fiel ihm zunehmend schwerer. Melanie verhielt sich wie ein trotziges Kind.
»Ich habe Leonie nie etwas getan. Nie. Nicht einmal, als sie die Zuckerdose meiner Großmutter heruntergeschmissen hat, und ich vor Schmerz und Wut beinahe wahnsinnig geworden wäre. Du weißt das, Olaf. Warum behauptest du plötzlich etwas anderes?«
Olaf schloss kurz die Augen, bevor er antwortete. »Du hast sie nie geschlagen, das stimmt. Dafür hast du ihr etwas ins Essen gemischt, damit sie Bauchschmerzen bekommt und sich erbricht. Was genau, weiß ich nicht. Du bist die gelernte Krankenschwester. Du kennst dich damit viel besser aus als ich. Melanie, du kannst nicht so tun, als wüsstest du nichts davon.«
»Ich weiß es aber nicht«, flüsterte Melanie. Sie blickte aus dem Fenster. Die tiefstehende Wintersonne ließ ihr Haar schimmern, kleine Staubflusen tanzten im Licht.
»Du erinnerst dich nicht?«, fragte Olaf. »An gar nichts?«
»Nein. Wenn ich diese schrecklichen Dinge tatsächlich getan habe, sind sie aus meinem Gedächtnis gelöscht.«
Er fasste sie bei den Schultern. Diesmal wehrte sie sich nicht. »Ich hole den Wagen aus der Garage. Warte hier.«
Er hörte sie schreien, als er den Zündschlüssel ins Schloss steckte. Mit einem Satz war er aus dem Auto und rannte zurück ins Haus. Melanie kam ihm kreischend entgegen, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht kreidebleich. Er versuchte, sie festzuhalten, doch sie riss sich von ihm los, taumelte ein paar Schritte rückwärts.
»Du hast es gewusst!«, schrie sie. Ihre Stimme überschlug sich. »Du hast es gewusst und mir nichts gesagt!« Sie stürzte zu ihm, trommelte mit den Fäusten auf ihn ein. »Warum hast du das getan?«
»Melanie!«, rief er. »Was ist denn los? Wovon redest du?«
»Du hast es die ganze Zeit gewusst!«, kreischte sie.
Er packte sie an den Oberarmen, zwang sie innezuhalten, ließ sie nicht los, auch als sie sich heftig zur Wehr setzte.
»Melanie!«, brüllte er. Gütiger Himmel! Wie hatte er den Wahnsinn so lange übersehen können, der aus ihren Augen blitzte? War er denn vollkommen blind gewesen? »Melanie, beruhige dich!«
»Warum hast du mir das angetan? Warum hast du es mir nicht gesagt?« Ihr Gesicht war nass von Tränen, ihre Stimme heiser. Ihre Gegenwehr ließ nach.
»Was, verdammt, habe ich dir nicht gesagt?«
Sie sah ihn an, plötzlich ganz ruhig. »Dass Leonie tot ist.«
Lydia knallte die Tür hinter sich zu, und augenblicklich verstummten alle Gespräche im Besprechungsraum. Sie setzte sich ans Kopfende neben Salomon, der bereits einen Haufen Unterlagen vor sich ausgebreitet hatte. Auf ihr Zeichen hin überreichte Köster ihr die Akte, die aus einem Stapel Hefter bestand. Während sie die Hefter einzeln auf dem Tisch ausbreitete, verfluchte sie sich dafür, dass sie zu Hause keine Kopfschmerztablette genommen hatte. Ihr Schädel pochte mal wieder, und am Ende der Besprechung würde er mit Sicherheit donnern wie ein Presslufthammer. Obwohl sie gründlich geduscht und frische Sachen angezogen hatte, spürte sie noch immer den Geruch von Heath Ledger an sich – was auch nicht gerade
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