Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Bei den Weibern wusste man nie, bei denen war alles möglich. Jedenfalls war es ein Klacks, sich einen Zweitschlüssel machen zu lassen. Im Grunde wäre das nicht einmal nötig, denn das Schloss bekam man auch anders auf, doch den Schlüssel zu besitzen fühlte sich gut an.
Gestern Abend, nachdem diese verfluchte Schnepfe ihm den Fall abgenommen und bei der Besprechung versucht hatte, ihn fertigzumachen, hatte er beschlossen, seine Idee in die Tat umzusetzen. Sollte sie ruhig die Chefin spielen, die wahre Macht besaß er. Jederzeit konnte er nun nicht nur ihr Büro, sondern auch ihre Wohnung inspizieren. Schubladen durchsuchen, an ihrem Duschgel schnuppern, ihr beim Schlafen zusehen. Er könnte sogar einen Schlüpfer mitgehen lassen, als Souvenir. Die Vorstellung elektrisierte ihn.
Das Telefon klingelte, und Hackmann wäre beinahe vom Stuhl gefallen. Bevor er abhob, nahm er eine gerade Haltung an und räusperte sich. Wie gut, dass man vom anderen Ende der Leitung keinen Blick auf meinen Schritt werfen kann, dachte er und konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.
Klaus Halverstett betrachtete das rosa Handy. Ein billiger Konsumgegenstand, für den ein Mann gestorben war. Er zwang sich, nicht darüber nachzudenken. Nicht heute, wo er sich gelöst fühlte wie lange nicht mehr. Allerdings hatte er sich gestern Abend darum gedrückt, Veronika von dem Treffen mit Maren Lahnstein zu erzählen. Er könnte sich zwar einreden, dass er es fest vorgehabt und dass Veronika selbst es verhindert habe, weil sie erst so spät heimgekommen war. Doch das wäre verlogen. In Wahrheit war er erleichtert darüber, das Gespräch hinauszögern zu können und den fragilen Frieden zwischen ihnen nicht gleich auf eine so schwere Probe stellen zu müssen. Dennoch bereute er seine Entscheidung nicht. Und wenn Veronika die Rettung ihrer Ehe davon abhängig machen wollte, dass er nicht mit Maren Lahnstein befreundet war, dann bitte schön! Dann war die Ehe eben nicht mehr zu retten. Der Gedanke beschleunigte zwar seinen Puls, doch er machte ihm keine Angst mehr.
Er schaute auf den leeren Platz ihm gegenüber. Rita Schmitt war bei der Staatsanwältin. Er sollte eigentlich die Unterlagen im Fall des Märchenonkels fertig machen und ebenfalls der Staatsanwaltschaft übergeben. Doch zuvor wollte er noch seine Neugier befriedigen. Die Kriminaltechnik hatte das Mobiltelefon untersucht. Der Käufer der Prepaid-Karte war nicht zu ermitteln. Immerhin hatten sie den PIN -Code geknackt und eine Liste der gespeicherten Nummern erstellt. Hauptsächlich weibliche Namen, nicht viele insgesamt, fast alle nur mit dem Vornamen gelistet.
Halverstett warf einen Blick auf den Bericht der Kriminaltechnik und tippte den PIN-Code ein. Das Telefon erwachte zum Leben. Jemand hatte es offenbar auch aufgeladen. Er ging die Kontakte durch, doch er fand nur die Nummern, die auf der Liste der Techniker standen. Dann öffnete er den Ordner mit den Fotos. Zunächst kamen einige Bilder aus der Altstadt, verwackelte Gesichter, Weihnachtsmarktstände, eine umgekippte Bierflasche. Halverstett runzelte irritiert die Stirn, bis ihm einfiel, dass Gruber erzählt hatte, er habe ein paar Fotos geschossen.
Plötzlich änderten sich die Bilder. Sie zeigten ein Mädchen in einem Park. Es hatte dunkle Haare und streckte die Zunge heraus. Auf dem nächsten Bild war ein blondes Mädchen zu sehen. Irgendetwas an ihr kam Halverstett bekannt vor, doch es fiel ihm nicht ein, wo er das Gesicht schon einmal gesehen hatte. Mehr Bilder mit den beiden Mädchen. Dann waren mit einem Mal zwei blonde Mädchen auf den Fotos, und Halverstett stockte der Atem.
»Ach du Scheiße«, murmelte er. »Das gibt es doch gar nicht.«
Immer wieder klickte er auf dem Display hin und her. Doch er hatte sich nicht geirrt. Und er erinnerte sich nun auch, woher er das Mädchen kannte. Er musste sofort mit Lydia Louis sprechen. Diese Bilder ließen den Mordfall Antonia Bruckmann in einem völlig neuen Licht erscheinen.
Lydia überprüfte noch einmal die Liste mit den Punkten, die sie auf der Pressekonferenz ansprechen wollte. Eben hatte sie sich mit Weynrath und der Staatsanwältin kurzgeschlossen, jetzt warteten sie nur noch auf Chris Salomon und das Foto von Leonie Schwarzbach.
Lydia trat ans Fenster und blickte hinaus auf den Hof, wo die Dienstwagen parkten. Salomon war längst überfällig. Er hatte kurz vor der Besprechung angerufen und mitgeteilt, dass es später werde, da es in der Wohnung Spuren zu sichern
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