Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
beherrschen.
»Und ob ich Ihnen was erzählen kann«, antwortete Rosine Richards. Sie warf einen Blick links und rechts ins Treppenhaus, doch alle Türen waren geschlossen, niemand schien sich für den Besuch der Polizei zu interessieren. »Das arme Kind war total verschreckt. Sie hat kein Wort gesprochen, und gegessen hat sie auch fast nichts. Dabei war sie völlig unterernährt. Ich habe extra lecker gekocht, aber das kleine Würmchen hat kaum was angerührt. Eine Schande, was dieses Dreckstück ihr angetan hat. So was dürfte sich von Rechts wegen nicht Mutter nennen, wenn Sie mich fragen.«
»Sie hat also nichts erzählt?«, hakte Lydia nach. »Von zu Hause? Von irgendwelchen Freundinnen? Einer Antonia vielleicht? Oder einer Nora?«
Die Frau schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr ganzer Körper wabbelte. »Hat sie nicht. Ich glaube auch nicht, dass die Kleine überhaupt Freundinnen hat. So krank wie sie ist.«
»Gut«, sagte Lydia. »Dann danke ich Ihnen erst mal.«
Chris brachte es nicht fertig, sich von der Frau zu verabschieden. Er nickte kurz und drehte sich weg. Im Aufzug sprachen sie kein Wort.
Erst als sie draußen beim Wagen standen, fragte Chris: »Was war das denn für eine?«
»Eine fanatische Kinderschützerin, denke ich.« Lydia schloss den Toyota auf. Sie schien nicht sonderlich beeindruckt, weder von der Frau noch davon, dass sie Leonie immer noch nicht gesprochen hatten. »Wir müssen uns diese Organisation mal näher anschauen, an die Olaf Schwarzbach sich gewandt hat. Überprüfen, ob diese Leute überhaupt seriös sind.«
»Gute Idee.«
Lydia legte den Kopf in den Nacken und schaute an der nackten grauen Fassade hoch. »Glaubst du, dass sie die Wahrheit gesagt hat?«
»Die Wahrheit? In Bezug auf was?«
»Dass Schwarzbach seine Tochter abgeholt hat.«
Der Gedanke war ihm gar nicht gekommen. Dieses Monstrum von einer Frau hatte ihn so überrollt, dass sein Verstand ausgesetzt hatte.
»Ich weiß nicht«, murmelte er.
»Wir fahren bei Schwarzbach vorbei«, sagte Lydia.
»Und wenn Leonie nicht dort ist?«
»Dann schreiben wir sie zur Fahndung aus.«
19
Dienstag, 11. Dezember
Es war das eingetreten, womit Lydia niemals gerechnet hätte. Sie hatten tatsächlich die Fahndung nach Olaf Schwarzbach und seiner Tochter Leonie eingeleitet. Lydia war mit Salomon direkt von der Wohnung der Pflegemutter nach Wersten gefahren, doch das Haus der Schwarzbachs war verlassen, der Wagen verschwunden.
Bisher waren weder Vater noch Tochter aufgetaucht, und Lydia wurde mit jeder Minute nervöser. Eine ganze Nacht war verstrichen, die beiden konnten inzwischen sonst wo sein. Sie ärgerte sich, weil sie diese Spur bisher so halbherzig verfolgt hatte. Sie hätte auf ihr Gefühl hören sollen, nicht auf Weynrath. Sie hatte Salomon losgeschickt, um ein Foto von dem Mädchen zu besorgen, das sie am späten Vormittag bei der Pressekonferenz veröffentlichen wollten. Auch wenn Lydia die Zusammenhänge noch nicht begriff, ahnte sie, dass Leonie Schwarzbach in Gefahr war.
Ruth Wiechert kam ohne zu klopfen ins Zimmer gestürzt. Lydia verkniff sich die Zurechtweisung, die ihr bereits auf der Zunge lag, als hinter Ruth Wiechert eine Frau mit toupierter roter Turmfrisur und auffällig geschminktem Gesicht auftauchte.
»Entschuldige die Störung«, rief Wiechert atemlos. »Ich glaube, Frau Kaiser ist eine wichtige Zeugin.«
Lydia winkte beide herein. »Und in welcher Sache möchten Sie aussagen?« Vielleicht hatte die Frau ja Schwarzbach und seine Tochter gesehen.
»Ich möchte gegen Walter Palmerson aussagen«, erklärte die Frau mit wichtiger Miene. Die dick aufgetragene Schicht Make-up täuschte nicht darüber hinweg, dass sie über siebzig sein musste.
Lydia warf Ruth Wiechert einen Blick zu, die nur die Schultern hob.
»Bitte!« Lydia deutete auf den Stuhl.
Es dauerte einen Moment, bis Frau Kaiser sich hingesetzt und die Handtasche neben sich abgestellt hatte. »Müssen Sie nicht ein Band einschalten oder so? Sie müssen meine Aussage doch festhalten.«
Lydia ballte die rechte Hand zur Faust und öffnete sie wieder. »Das machen wir später. Jetzt möchte ich erst einmal hören, was Sie zu sagen haben.«
Die Frau schien nicht zufrieden, doch sie fügte sich in ihr Schicksal. »Also, ich habe den Palmerson gesehen. An dem Tag, als der die Kleine – na, Sie wissen schon. Dieser Perversling! Wenn ich gewusst hätte, dass ich mit so einem in einem Haus wohne!«
»Sie sind eine Nachbarin von Herrn
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