Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Palmerson?«
»Ich wohne unter ihm, ja. Erschreckend, so etwas.«
»Sind Sie denn noch nicht von meinen Kollegen befragt worden?«
»Nein. Ich war ein paar Tage bei meiner Schwester. Ich bin erst gestern Abend zurückgekehrt.«
»Und Sie haben Herrn Palmerson gesehen? Wann denn?«
»Na, am Mordtag natürlich. Was meinen Sie denn? Sonst wäre es ja nicht von Belang für Sie, oder?«
»Wann genau haben Sie ihn gesehen?«
»Um zehn nach vier. Das weiß ich, weil ich ständig auf die Uhr geschaut habe, während ich auf ihn wartete. Er war einkaufen, und ich wollte ihn unbedingt erwischen. Wegen der Treppe. Seit seine Frau tot ist – die arme Frau, wie gut, dass sie davon nichts mehr mitbekommt! Nun ja, seit sie tot ist, klappt es mit der Treppe überhaupt nicht mehr. Männer. Was will man da erwarten. Ich wollte Palmerson sagen, dass es so nicht weitergehen kann.«
»Was ist mit der Treppe?«, fragte Lydia. Sie sprach jedes Wort langsam und betont. Am liebsten hätte sie Frau Wichtigtuerin-Kaiser auf der Stelle vor die Tür gesetzt und Ruth Wiechert dazu verdonnert, sich ihre Aussage anzuhören. Aber etwas von dem, was die Frau gesagt hatte, hielt sie zurück. Eine entscheidende Kleinigkeit.
»Na, sie muss geputzt werden«, sagte Frau Kaiser ungeduldig. »Nie putzt er die Treppe, wenn er dran ist. Er muss es ja nicht selbst tun. Männer können das sowieso nicht. Er sollte sich eine Putzfrau besorgen, das habe ich ihm schon zigmal gesagt. Aber meinen Sie, es passiert was?«
»Und am vergangenen Dienstag haben Sie ihn darauf angesprochen? Sind Sie sicher, dass es am Dienstag war?«
»Ja, natürlich. Denn am Mittwoch bin ich zu meiner Schwester gefahren, und da habe ich morgens im Radio von dem Mord gehört. Ich dachte noch: So eine schlimme Sache, und das gleich bei uns um die Ecke. Wenn ich gewusst hätte, dass ich mit dem Mörder unter einem Dach wohne!« Sie machte eine theatralische Geste.
»Und die Uhrzeit?«
»Zehn nach vier. Sagte ich doch schon. Fräulein, sind Sie sicher, dass Sie mir richtig zugehört haben? Sie hätten doch besser Ihr Aufnahmegerät eingeschaltet. Oder am besten ich spreche mal mit Ihrem Chef.«
Lydia lehnte sich zurück. »Ich bin Kriminalhauptkommissarin Lydia Louis und ich leite diese Ermittlung. Sie sprechen mit dem Chef.«
Frau Kaiser öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
»Bitte beantworten Sie meine Frage!«
»Zehn nach vier. Auf die Minute.«
»Und da kam Herr Palmerson vom Einkaufen?«
»Ja. Mit einer vollen Tüte. Er kommt immer mit einer Tüte vom Einkaufen zurück. Vermutlich hat es sich noch nicht bis zu ihm herumgesprochen, dass dieses ganze Plastik schlecht für die Umwelt ist. Der hat bestimmt noch nie etwas von einer Einkaufstasche gehört. Na ja, was will man von so einem schon erwarten.«
»Wie lange haben Sie mit Herrn Palmerson gesprochen?«
»Ich weiß nicht. Bestimmt zehn Minuten. Vielleicht auch etwas länger. Wir haben über seine verstorbene Frau geredet, und wie schwer das alles für ihn ist. Die Tochter von den Senkmeiers ist noch vorbeigekommen. Sie besucht ihre Eltern immer am Dienstag. Sie hat auch kurz mit ihm geredet. Weil sie ihn doch schon von Kindesbeinen an kennt. Sie ist ja in dem Haus aufgewachsen.«
»Was hat Herr Palmerson gemacht, nachdem Ihr Gespräch beendet war?«
»Na, er ist in seine Wohnung gegangen.«
»Könnte er das Haus noch einmal verlassen haben?«
»Irgendwann bestimmt. Aber nicht sofort. Ich habe ihn über mir poltern hören. Das Haus hat so dünne Wände, wissen Sie. Und er braucht immer ewig, bis er seine Einkäufe verstaut hat.« Sie strich behutsam mit den perfekt manikürten Fingern über ihr Haar.
Lydia sah zu Ruth Wiechert hoch, die neben Frau Kaiser stehen geblieben war. »Bitte nimm ihre Aussage auf. Und lass dir die Adresse von dieser Tochter geben.«
»Sieht so aus, als hätte Palmerson ein Alibi«, sagte Ruth Wiechert.
Lydia nickte. »Ja, sieht so aus. Wird Zeit, dass wir Leonie und ihren Vater finden.«
Thomas Hackmann lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Es war leichter gewesen, als er gedacht hatte. Nach der Geschichte im September hätte man meinen können, dass die Louis ihre Wohnungstür schleunigst mit einem vernünftigen Schloss versehen hatte, aber aus irgendeinem Grund hatte sie es versäumt. Vielleicht war sie noch nicht dazu gekommen, oder sie hielt sich für unverwundbar. Vielleicht wollte sie, dass jeder Idiot bei ihr rein- und rausmarschieren konnte.
Weitere Kostenlose Bücher