Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
gebe.
»Was für Spuren?«, hatte Lydia gefragt.
»Schwarzbach hat offenbar vor, für längere Zeit unterzutauchen«, hatte Salomon erwidert. »Er hat Wäsche und dergleichen für sich und seine Tochter eingepackt. Außerdem ist ein ganzes Regal im Wohnzimmer ausgeräumt. Ich weiß noch nicht, was dort stand.«
»Schwarzbach hat ein Regal geleert? Bist du sicher, dass da vorher was drin war? So überstürzt, wie der aufgebrochen ist, hat er doch wohl kaum das Teeservice seiner Großmutter mitgenommen. Oder seine Lieblingsbücher.«
»Den Spuren im Staub nach könnte Letzteres sogar hinkommen. Allerdings wüsste ich nicht, wieso ein Mann, der des Mordes an seiner Frau verdächtigt wird, mit einem Stapel Romane abhauen sollte. Das erscheint mir nicht plausibel.«
Lydia hatte gestöhnt. »Okay, wir halten die Besprechung ohne dich ab. Komm, sobald du kannst. Und schick jemanden mit dem Foto vorbei.«
»Mach ich. Sobald ich eins gefunden habe.«
»Um elf ist die Pressekonferenz. Dann brauche ich das Bild.«
»Das habe ich nicht vergessen.« Mit diesen Worten hatte er das Gespräch beendet. Das war jetzt über eine Stunde her.
Lydia ärgerte sich, dass sie nicht selbst vor Ort war. Was Salomon wohl noch in dem Haus entdeckt hatte, das ihn so lange aufhielt? Es waren nur noch wenige Minuten bis elf, und wenn er nicht gleich auftauchte, musste sie ohne ein Foto des vermissten Mädchens vor die Presse treten. Sie hatte sogar schon in der Schule angerufen, doch Leonies Klassenlehrerin besaß nur ein Bild der gesamten Klasse, auf dem ausgerechnet Leonies Gesicht von einem anderen Kind verdeckt wurde. Es war wie verhext.
Lydia wandte sich vom Fenster ab und ging noch einmal die Liste durch. Sie hasste Pressekonferenzen. Sie hasste es, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Gelegenheit, die viele Kollegen liebten, um sich für ein paar Minuten im Ruhm zu sonnen, war für sie jedes Mal ein Höllentrip. Die Kameras, die bohrenden Fragen, die mehr oder weniger unverhohlenen Vorwürfe, wenn es keine Ergebnisse vorzuweisen gab, machten sie nervös, vermittelten ihr das Gefühl, schutzlos zu sein. Ausgeliefert. Viel lieber arbeitete sie im Verborgenen, ohne dass die halbe Welt ihr dabei über die Schulter sah. Glücklicherweise nahm Weynrath ihr diese Arbeit oft nur allzu gern ab. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Doch über diesen Fall war er nicht genug im Bilde, um die vielen Fragen angemessen beantworten zu können. Und vor allem, um zu beurteilen, welche besser unbeantwortet blieben. Das zu entscheiden war jedes Mal eine Gratwanderung. Und ein weiterer Grund, warum Lydia Pressekonferenzen nicht mochte.
Die Tür wurde aufgestoßen. »Tut mir leid, Louis. Wir haben bis eben alles abgesucht.« Salomon kam ins Büro gestürzt.
»Na, du hast es ja gerade noch geschafft. Komm mit.« Sie nahm ihre Notizen.
»Das meinte ich nicht.«
Sie sah ihn an, plötzlich hellhörig. Er wirkte zerknirscht.
»Was meintest du denn?« Eine Ahnung stieg in ihr auf.
»Im ganzen Haus war nicht ein einziges Foto. Weder von Leonie noch von dem Vater oder der Mutter. Nicht einmal das Bild von der verstorbenen älteren Schwester stand noch auf der Kommode im Wohnzimmer. Auch einen Computer, auf dem Dateien mit Fotos sein könnten, haben wir nicht gefunden. Im Wohnzimmer hat wohl ein Laptop gestanden, doch der ist ebenfalls fort.« Er hob in einer hilflosen Geste die Schultern. »Ich habe keine Erklärung dafür.«
»Ich fasse es nicht!« Lydia knallte die Unterlagen auf ihren Schreibtisch. Irgendetwas ratterte in ihrem Hinterkopf, doch es formte sich nicht zu einem Gedanken.
Salomon fuhr sich durch das Haar. »Das leergeräumte Regal. Es kann sein, dass es Fotoalben enthielt. Allerdings habe ich nicht die geringste Ahnung, warum Schwarzbach sie mitgenommen hat. Das ergibt doch keinen Sinn!«
Lydia warf einen Blick auf die Uhr, nahm die Notizen wieder in die Hand und ging zur Tür. »Darüber können wir uns später Gedanken machen. Jetzt müssen wir erst mal in die Höhle des Löwen und versuchen, das Beste draus zu machen. Weynrath wird nicht begeistert davon sein, dass wir kein Foto präsentieren können. Aber vielleicht fällt uns auf dem Weg noch eine gute Erklärung für die Presse ein. Kommst du mit?«
»Klar.« Chris folgte ihr auf den Gang.
»Warum hat das denn so lange gedauert?«, wollte Lydia wissen, während sie zum Treppenhaus gingen.
»Wir haben überall nach Fotos gesucht«, antwortete Salomon. »Sogar im
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