Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Keller und in der Garage. Wir haben die Nachbarn gefragt. Und wir haben versucht herauszufinden, ob er Bilder gezielt vernichtet hat. Spunte und sein Team haben sämtliche Mülltonnen durchwühlt.«
»Sonst nichts Auffälliges?«
»Ein paar offene Schranktüren. Ein paar Kleidungsstücke auf dem Boden. Schwarzbach hat offenbar in aller Eile gepackt.«
Lydia hechtete die Treppe hinunter. »Und trotzdem hat er sich die Zeit genommen, jedes einzelne Foto aus der Wohnung verschwinden zu lassen.« Sie blieb stehen und drehte sich zu Salomon um. »Warum, verdammt?«
Der Himmel war dunkelgrau, es dämmerte, tausende bunte Lämpchen funkelten in Vorgärten und Fenstern. Normalerweise liebte Kerstin Diercke den Anblick der vorweihnachtlichen Lichterpracht, doch heute verstärkte er ihre Unruhe. Die Konferenz hatte länger gedauert als gedacht. Nora war seit Stunden allein zu Hause. Am Vormittag hatte Heiner sich um sie gekümmert. Er war sofort vorbeigekommen, als Kerstin ihn am Sonntagabend angerufen hatte, und unterstützte sie seither, so gut es ging. Doch nachmittags musste er arbeiten. Das Arbeitsamt hatte ihm einen Job vermittelt, und deshalb konnte er nur bis zwölf Uhr bei Nora bleiben. Kerstin hatte gehofft, gegen zwei zu Hause zu sein. Inzwischen war es vier. Sie hatte Jan nicht erreicht und betete, dass er in der Universität über seinen Büchern saß und nicht irgendeinen Mist baute. Sie schloss die Haustür auf und stieg die Treppe hoch. Nichts war zu hören außer ihren müden Schritten. Auch in der Wohnung war es still. Kerstin stellte die schwere Tasche auf dem Tisch in der Essecke ab und ging in Noras Zimmer.
Es war still und dunkel, und während Kerstin den Lichtschalter suchte, klopfte ihr Herz schneller. Nora lag in ihrem Bett und hatte die Augen geschlossen. Ihr Gesicht war gerötet, ihr Atem ging unruhig. Kerstin fühlte ihre Stirn. Sie war heiß. Mist! Warum hatte Heiner sie nicht angerufen? Wenn sie gewusst hätte, dass es Nora schlecht ging, hätte sie nicht an der Konferenz teilgenommen. Sie spürte, wie die alte Wut wieder in ihr aufstieg, über seine Unzulänglichkeit und seine Selbstsucht. Diese Wut hatte ihre Ehe aufgefressen. Als diese Wut schließlich drohte, die Familie zu vergiften, hatte Kerstin die Konsequenzen gezogen. Obwohl sie allein mit zwei Kindern war, bewältigte sie den Alltag ohne Heiner viel besser. Es war einfacher, die Dinge selbst zu erledigen, als ständig Feuerwehr zu spielen für jemanden, auf dessen Versprechungen man nichts geben konnte. Nur das Gefühl, versagt zu haben, hatte sie nicht verdrängen können.
Kerstin strich Nora über das verschwitzte Haar. Und nun hatte sie wieder versagt und ihre Tochter nicht beschützen können; nicht vor dem Verlust der besten Freundin, nicht vor der Trauer und den bohrenden Fragen der Polizei; und nicht vor der Angst vor einem Mörder, der vielleicht noch frei herumlief. Nachts plagten Nora Albträume. Kein Wunder, dass sie krank geworden war. Es war nicht fair, auf diese Weise der Kindheit entrissen zu werden.
Kerstin setzte sich auf die Bettkante und betrachtete ihre Tochter. Vielleicht war Noras Kindheit längst zu Ende, und sie hatte es nicht gemerkt. Nora hatte gestohlen, mehrfach, denn die Gegenstände in dem Schuhkarton stammten aus unterschiedlichen Geschäften. Wer weiß, was sie sonst noch ausprobiert hatte. Alkohol. Zigaretten. Kerstin wusste nur zu gut, dass manche Kinder bereits in Noras Alter damit anfingen. Sie sah sie schließlich täglich in der Schule, wie sie mit abgekauten Fingernägeln mit ihren Feuerzeugen herumspielten, wie sie nach dem Unterricht im Park Zigaretten in ihren mageren, verfrorenen Fingern hielten und ihr verschämt-provozierende Blicke zuwarfen.
Bisher hatte Kerstin gedacht, dass sie anders wäre, dass sie nicht zu diesen Eltern gehörte, die nicht richtig auf ihre Kinder achtgaben und denen es gleichgültig war, ob sie stundenlang vor dem Computer saßen oder hinter der Garage einen Joint herumgehen ließen, solange sie ihnen nicht auf die Nerven gingen. Wie vermessen von ihr.
Doch noch war es nicht zu spät, das Ruder herumzureißen. Diesmal würde sie nicht so lange warten wie bei Jan. Nora war erst zehn. Noch waren die Weichen nicht gestellt.
Kerstin stand auf. Jetzt galt es erst einmal, das Fieber zu senken. Außerdem musste sie einkaufen und mit Tommy rausgehen. Zum Nachdenken war später noch Zeit.
Lydia ignorierte die fragenden Blicke und stellte den Laptop auf dem Tisch ab.
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