Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
einen neugierigen Blick ins Innere zu werfen. Es interessierte sie nicht wirklich, wie diese Sonja aussah. Vermutlich lernte sie sie noch früh genug kennen.
Die Flure der Festung waren leer, nur hinter der Glastür zur Wache war Stimmengewirr zu hören. Lydia nahm den Paternoster. Als sie vor der Bürotür stand und den Schlüssel ins Schloss steckte, hörte sie hinter sich Schritte. Misstrauisch fuhr sie herum. Doch es war nicht Hackmann, der vor ihr stand, sondern Gerd Köster.
»Auch noch hier?«, fragte er lächelnd.
»Muss noch die Berichte schreiben«, erklärte sie und schloss auf.
Er folgte ihr ungefragt hinein. »Soll ich uns Kaffee machen?«
»Nein. Für mich nicht, danke.« Lydia wünschte sich, dass er ging. Sie wollte allein sein. Aber sie brachte es nicht übers Herz, ihn hinauszuwerfen. Bei jedem anderen hätte sie keine Skrupel gehabt.
»Ich wollte dich was fragen, Louis.«
Lydia fuhr den Rechner hoch. »Ja?«
Er ließ sich auf Salomons Stuhl nieder, doch er antwortete nicht sofort. Lydia erinnerte sich daran, wie Salomon zum ersten Mal auf diesem Platz gesessen und sie ihn zum Teufel gewünscht hatte; denn dieser Platz hatte Decker gehört, ihrem langjährigen Partner, der an Krebs gestorben war. Jetzt ertappte sie sich dabei, wie sie dachte, dass Köster nichts auf diesem Platz verloren hatte, weil er Salomon gehörte und nur er dort sitzen durfte.
»Ich finde, niemand sollte an Weihnachten allein sein«, sagte Köster.
Lydia reckte den Kopf und sah ihn über ihren mit Haftzetteln gespickten Bildschirm hinweg an. »Bist du plötzlich sentimental geworden, Köster?«
»Nenn es, wie du willst. Ich bleibe dabei. Ich finde, Heiligabend sollte man in Gesellschaft verbringen.«
Lydia begriff immer noch nicht, worauf Köster hinauswollte, und sie hatte von Minute zu Minute weniger Lust auf dieses Gespräch. Wenn ihr Kollege auf seine alten Tage gefühlsduselig wurde, dann sollte er sie gefälligst damit in Ruhe lassen.
»Also, ich bin gern allein. Und an Weihnachten liegt mir sowieso nichts«, sagte sie und versuchte, sich auf den Bericht zu konzentrieren.
»Was hältst du davon, wenn ich dich zum Essen einlade?«
Vor Schreck tippte sie die falsche Tastenkombination und löschte alles, was sie bisher geschrieben hatte. Was, verdammt, war denn in Köster gefahren? Verspätete Midlifecrisis? Altersrührseligkeit? Oder …? Scheiße, nein. »Köster, das ist ein nettes Angebot, aber ich bin Weihnachten lieber allein. Ich halte nichts von diesem ganzen Firlefanz mit Geschenken und Tannenbäumen und so. Und jetzt muss ich diesen Bericht schreiben, sonst komme ich heute überhaupt nicht mehr ins Bett.«
Köster stand auf. Erleichtert registrierte sie, dass er nicht gekränkt schien.
»Mein Angebot steht«, sagte er. »Du kannst es dir jederzeit überlegen. Ich koche eine ganz gute Lasagne. Wirklich.«
Als er das Büro verlassen hatte, hörte sie auf zu tippen.
»Scheiße«, murmelte sie. »Verfluchte Scheiße.« Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein liebeskranker Kollege, der sie auf Schritt und Tritt mit seinen Aufmerksamkeiten verfolgte. Und dann auch noch ausgerechnet Köster. Er war ein netter Kerl und ein zuverlässiger Kollege, aber als Mann völlig indiskutabel, und das nicht nur, weil er fast zwanzig Jahre älter war als sie.
Vielleicht sollte sie sich einen Scheinliebhaber zulegen. Das würde zugleich den dummen Gerüchten, die in der Festung kursierten, ein Ende setzen. Auch wenn es ihr noch niemand ins Gesicht gesagt hatte, wusste sie, dass sie unter Kollegen wie Hackmann entweder als frigide oder lesbisch galt. Bisher hatte sie das nicht gestört. Allerdings hatte sie keine Lust darauf, demnächst mit Köster aufgezogen zu werden. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Ein Foto auf dem Schreibtisch und ein paar geheimnisvolle Anrufe, mehr war nicht nötig. Und es hätte den Vorteil, die peinlichen Momente zwischen ihr und Salomon abzustellen.
Aber erst die Berichte. Und dann eine Nacht darüber schlafen. Oder zwei. Ein falscher Liebhaber konnte auch zum Fluch werden. Sie musste das Für und Wider genau abwägen, bevor sie sich entschied. Und heute hatte sie dafür definitiv keine Kraft mehr.
Chris Salomon sah fasziniert zu, wie Sonja mit geübten Fingern eine Sushi-Rolle zwischen ihre Essstäbchen nahm, in Sojasoße tunkte und genüsslich in den Mund steckte.
»Die hier nennt man übrigens Hoso-Maki«, erklärte sie kauend und tippte mit den Stäbchen an eine
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