Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Reisrolle.
»Aha.« Chris hatte die Stäbchen nach ein paar vergeblichen Versuchen weggelegt und spießte eine Rolle mit der Gabel auf.
»Leider bin ich kein großer Kenner asiatischer Genüsse.«
Sonja lächelte. »Ich auch nicht. Eigentlich müssten wir mit den Fingern essen, das wäre korrekt.«
»Oh, das kann ich gut.«
»Dachte ich mir.« antwortete Sonja. »Da kannst du dich mit meinen Neffen zusammentun. Obwohl sie noch so klein sind, sind sie bereits begeisterte Sushi-Fans, was bestimmt auch daran liegt, dass sie ausnahmsweise einmal mit den Fingern essen dürfen.«
Chris hatte gemerkt, wie Sonjas Augen bei der Erwähnung der Jungen aufgeleuchtet hatten, und es hatte ihm einen Stich versetzt. Er war sich nicht sicher, ob er ihr geben konnte, was sie sich so sehr wünschte.
»Du hängst an deinen Neffen«, sagte er. Es klang wie eine Frage.
»Ja. Sie sind wunderbar. So voller Energie und Lebensfreude.«
Er wollte ihr sagen, dass sie bestimmt eines Tages eigene Kinder haben würde, aber die Worte kamen ihm nicht über die Lippen. Sie war fast vierzig, bestimmt hörte sie ihre biologische Uhr schon laut ticken. Und er sollte dieses Ticken abstellen. Doch er fühlte sich noch nicht bereit. Er brauchte Zeit, um sich von Anna zu verabschieden, um sicher zu sein, dass Sonja die Frau war, mit der er eine zweite Familie gründen wollte. Das konnte er ihr allerdings schlecht sagen. Es würde ihr wehtun, denn im Gegensatz zu ihm schien sie sich längst sicher zu sein, dass er der Richtige war.
»Apropos Neffen«, sagte sie und nahm einen Schluck Wein. »Ich wollte dich etwas fragen.«
Er hatte sich gerade ein Stück Fisch in den Mund gesteckt, das ihm plötzlich riesengroß vorkam. Er kaute, doch der Fisch schien in seinem Mund zu wachsen. Schließlich würgte er ein »Was denn?« hervor.
»Hast du Heiligabend schon etwas vor?«
Er schüttelte den Kopf, halb erleichtert, halb verwirrt.
»Hättest du Lust auf eine Feier mit Familienanschluss? Mein Bruder hat uns eingeladen. Es gibt Fondue. Wird bestimmt ein netter Abend. Die Einladung gilt allerdings nur, wenn das Baby bis dahin noch nicht da ist.«
»Oh, ich weiß nicht«, murmelte Chris. »Ich kenne deine Familie doch gar nicht.«
Sonja brach in ihr glucksendes Lachen aus. »Genau das möchte ich gern ändern. Du wirst sehen, wir sind alle ganz unkompliziert. Du musst auch keine Geschenke besorgen oder so. Das erledige ich.« Sie griff nach seiner Hand. »Du würdest mir eine große Freude damit machen.«
Er schluckte den Fisch hinunter. »Ich finde es schön, dass du Weihnachten mit mir verbringen willst, Sonja. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich eine gute Gesellschaft wäre.«
»Das lass mal meine Sorgen sein.«
Er drückte ihre Hand. »Habe ich Bedenkzeit?«
»Ja, natürlich.« Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Nasenspitze. »Solange du willst. Ich werde dich nicht drängen. Ich verstehe, dass ein solches Fest schmerzhafte Erinnerungen bei dir auslöst, vor allem im Kreis einer glücklichen Familie. Deshalb bin ich dir auch nicht böse, wenn du sagst, dass du es dir noch nicht zutraust.«
»Danke«, flüsterte er heiser.
Sie antwortete nicht, blickte ihn nur an. Wunderschön sah sie aus, ihr dunkles Haar schimmerte, ihre Augen leuchteten. Einen Augenblick lang war er versucht, sofort zuzusagen. Was hatte er schon zu verlieren? Einen einsamen Abend mit ein paar Flaschen Bier und dem Fernsehprogramm. Doch er schwieg. Wenn er jetzt ja sagte, gab es kein Zurück mehr.
22
Mittwoch, 12. Dezember
Die Sonne blinzelte durch die Wolkendecke, als der Wagen auf den Gebäudekomplex zurollte, der versteckt auf einer Waldlichtung lag. Das große Tor stand weit offen, ein Schild inmitten einer Ansammlung von Rhododendronbüschen verkündete, dass man das Gelände der »Waldklinik« betrat, einer Fachklinik für Geburtsheilkunde und Gynäkologie.
Ingo Wirtz glitt in eine Lücke auf dem Besucherparkplatz und stellte den Motor ab. »Ganz schön schick.«
Ruth Wiechert reckte den Hals und sah an dem Klinikgebäude hoch. »Riecht nach Geld. Nach viel Geld.«
»Und ist ziemlich abgeschottet.«
Sie stiegen aus.
»Also, dass die Bruckmanns hier eine Tochter zur Welt bringen, kann ich mir ja noch vorstellen«, sagte Ingo. »Aber die Schwarzbachs? Das passt irgendwie nicht.«
»Wir werden es herausfinden«, sagte Ruth und zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. Es war kalt, viel kälter, als sie auf der Fahrt hierher in dem gut geheizten
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